An ihrem Jubiläum im Raum Bern rückt die katholische Kirche soziale Institutionen in den Fokus und organisiert einen spannenden Blick hinter die Kulissen. Mit dabei: Drahtesel. Hier werden weit mehr als Velos repariert. Die Institution hilft Menschen durch Arbeit, Bildung und Coaching im ersten Arbeitsmarkt anzukommen.
Es riecht nach Öl, Zahnräder greifen fast lautlos ineinander, ein Leerlauf klackert. In der grossen Halle von «Drahtesel» in Liebefeld geht jedem Veloliebhaber das Herz auf. Da steht das neonfarbene Fixie neben Retroschätzen aus den 90ern, einem Klapprad oder dem modernen E-Bike. Hier werden Velos verkauft, repariert und recycelt – und das alles mit einem sozialen Hintergrund. «Wenn Menschen zum ersten Mal hier sind, sind sie oft überrascht, was hier beim Drahtesel alles läuft. Letztes Jahr nahmen bei uns 772 Menschen an einer Arbeitsintegrationsmassnahme teil», erklärt Sozialarbeiterin Christine Vögeli. Finanziert werden diese teils von der IV oder dem Amt für Arbeitslosenversicherung und kommen Menschen zugute, die aufgrund ihrer momentanen Lebenssituation eingeschränkte Chancen haben, einen Platz im ersten Arbeitsmarkt zu finden.
Neben einer Velowerkstatt gibt es hier auch das Restaurant «Dreigänger» mit Secondhand-Shop, das Projekt «Restwert», die Bereiche Facility Services und Gartenbau und -unterhalt. Drahtesel hat mehrere Standorte. Vögeli freut sich schon auf den 22. Juni. «Denn an diesem Tag der offenen Tür wollen wir zeigen, auf wie vielen Quadratmetern und in was für verschiedenen Bereichen hier Arbeitsintegration betrieben wird.» Auch dank der Unterstützung der katholischen Kirche Bern konnte Drahtesel sein Angebot ausbauen und neue Lehrberufe anbieten. «Wir werden am Aktionstag die Arbeitsplätze der Lernenden zeigen. Denn hier lernen nicht nur angehende Velomechs, sondern auch zum Beispiel Küchenassistent:innen, Kaufleute oder Detailhandelsassistent:innen.»
Social Seeing, statt Sightseeing
Die Idee zu diesem Aktionstag (siehe Kasten) hatte die Katholische Kirche Region Bern. «Wir feiern an diesem Wochenende unser 225-jähriges Bestehen in Bern. Neben einer Feier im Gottesdienst wollen wir auch zeigen, was die Kirche noch tut. Denn 34 Prozent unseres Budgets fliessen in soziale Engagements, dazu noch fünf Prozent in Bildung», sagt Projektleiterin Isabelle Flury. So rücken am 22. Juni fünf Institutionen als Stationen einer ungewöhnlichen «Hop on, hop off»-Tour in den Mittelpunkt. «Wir wollen zeigen, dass Kirche mehr ist als man glaubt und was neben den Pfarreien und Fachstellen auch die von uns unterstützten Institutionen leisten.» Damit man von dem bunten Angebot möglichst viel sehen kann, organisiert die Kirche einen Shuttleservice: Der Bus hält bei jeder Station für 30 Minuten. «Man kann etwas essen, sich umschauen oder bei einer Führung mitgehen», sagt Flury zum Konzept. «Wer es gemütlich nehmen will, kann beispielsweise hier im Drahtesel verweilen.»
Vögeli würde sich auf jeden Fall darüber freuen, gibt sie zu. Erst vor kurzem konnte Drahtesel dank der Zuwendungen der Kirche ein Bildungszentrum ins Rollen bringen. «Wir bilden Menschen aus, die mehr Unterstützungsbedarf haben und so ihre Lehre nicht in einem klassischen Betrieb machen können. Bei uns gibt es neben Berufsbildner:innen auch psychosoziale Unterstützung», erklärt sie die anspruchsvolle Aufgabe. Alle Lernenden haben unterschiedliche Bedürfnisse, brauchen individuelle Hilfestellungen. Im Förderunterricht, einem Angebot des Bildungszentrums, können Lernende im Einzelsetting bei schulischen Themen unterstützt werden. Solche gezielten Massnahmen helfen, den Lehrabschluss zu schaffen. Das ist nicht selbstverständlich, weiss Vögeli: «Manche Lernenden haben sehr grosse Herausforderungen. Wir können ihnen in dieser Umgebung mehr Zeit geben und vieles auffangen.» Und dieses Quäntchen mehr an Unterstützung macht den Unterschied. «Für viele ist es ein Erfolgserlebnis nach einigen Wochen selbstständig und selbstsicher den Arbeitsweg zu meistern», nennt Vögeli ein Beispiel. Die Selbst- und Sozialkompetenz der Lernenden beeindrucke sie hier am meisten. «Ich spüre, wie sie in den zwei bis drei Jahren Ausbildung auch persönlich wachsen. Vermeintlich kleine Veränderungen, die aber ein grosser Erfolg sind.» Im Anschluss an die Lehre hilft Drahtesel dann einen festen Arbeitsplatz oder eine andere Lösung zu finden.
Drahtesel gehört zur Stiftung Sinnovativ. «Sie ist vor über 30 Jahren im katholischen Umfeld entstanden. Zuerst ging es darum, obdachlosen Menschen zu helfen», erklärt Deborah Bieri, die in der Kommunikation von Velafrica, einer Organisation, die aufbereitete Velos exportiert, arbeitet. Durch Velorecycling kamen die Menschen zu einer Tagesstruktur und sinnvollen Beschäftigung – die Geburtsstunde von Drahtesel und später Velafrica. «Seither sind wir eng mit der Kirche verbunden, die uns regelmässig unterstützt.»
Bieri schaut heute den Velomechanikern mit Freude über die Schulter. Jährlich exportiert Velafrica 40 000 Ersatzteile und rund 25 000 Velos nach Afrika. Jedes bedeutet eine Chance. Es macht den Schul- oder Arbeitsweg leichter, schneller und sicherer, hilft Lasten zu transportieren und schafft unabhängige Mobilität, gerade für Frauen und Mädchen.
Drahtesel ist dabei einer der grössten Partner, um die gespendeten Schweizer Velos aufzubereiten. In der Aktion Velafrica verbinden sich so seit 1993 lokale Integrationsarbeit und internationale Entwicklungszusammenarbeit. «Jeder Franken, der gespendet wird, vervielfältigt sich», sagt Hubert Dietrich, der bei Velafrica und Drahtesel das Fundraising betreut. «Die Wirkung geht weit über das Lokale hier beim Drahtesel hinaus.»
Wie in der Schweiz ist Velomech auch in Afrika ein beliebter Lehrberuf. «In Burkina Faso haben wir mit lokalen Partnern und durch Unterstützung der katholischen Kirche die erste duale Ausbildung zum Velomechaniker im ganzen Land aufbauen können. Diesen Herbst werden die ersten 350 Jugendlichen die Lehrabschlussprüfung machen», erzählt Bieri. «Ein Velo kann das Leben wirklich verändern.»