Für Berns Grüne wird es eng, die SVP hingegen dürfte zulegen. Politik-Professor Adrian Vatter wagt für den BärnerBär kurz vor den eidgenössischen Wahlen einen Blick in die Glaskugel.
Adrian Vatter, die Wahlen 2019 wurden gemeinhin als «Klimawahl» bezeichnet. Unter welchem Motto stehen die Wahlen 2023?
Einen einheitlichen Oberbegriff zu finden, ist diesmal schwieriger. Ich würde am ehesten den Titel «Rückkehr der harten Politik» wählen.
Nüchterne Wahlen also?
Sozusagen. In der Politik gibt es harte und softe Themen. Zu den harten gehören einerseits die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Andererseits Wirtschaftsthemen wie Krankenkassenprämien oder die Inflation. Diese dominieren derzeit eindeutig. «Softere» Inhalte wie kulturelle und ökologische Themen rücken in den Hintergrund.
Lässt sich bereits jetzt voraussagen, was sich im Kanton Bern, der 24 Nationalratssitze hat, durch die Wahlen verändern wird?
Wir Politologen stützen uns bei den Prognosen auf verschiedene Indikatoren, etwa die Grossratswahlen vom März 2022, die noch nicht so lange her sind. Hinzu kommen Umfragen und Wahlbörsen. Setzt man all diese Faktoren zusammen, wird ersichtlich, dass keine grossen politischen Umwälzungen zu erwarten sind. Eher einzelne Sitzverschiebungen, die sich jedoch durchaus einer genaueren Betrachtung lohnen.
Zum Beispiel?
Nehmen wir Die Mitte. Die BDP existiert nicht mehr, sie fusionierte mit der CVP. Die BDP schnitt bei den letzten Grossratswahlen relativ schlecht ab. Nun wird interessant zu beobachten sein, ob sich die neue Partei auf nationaler Ebene besser halten kann.
Beginnen wir unsere Prognose mit der SVP: Dort treten gleich drei Nationalräte nicht mehr an. Wird die Partei diese Sitze erstens halten können? Und wer erbt sie?
Vor vier Jahren holte die SVP auf dem Papier siebeneinhalb Sitze, sieben erhielt sie schliesslich zugesprochen. Bei den kantonalen Wahlen 2022 verlor die SVP leicht, die Umfragewerte zeigen aber klar nach oben. Folglich dürfte sie diese sieben Mandate sicher verteidigen können. Die vier Bisherigen werden sehr wahrscheinlich wiedergewählt. Wer die freiwerdenden Sitze erbt? Beat Bösiger betreibt eine intensive Kampagne, ebenso Thomas Knutti. Interessant ist auch die Frage: Spielt der «Promi-Bonus», etwa bei Sabina Geissbühler-Strupler, der Mutter der abtretenden Nationalrätin Andrea Geissbühler? Oder bei Nadja Günthör, der Ehefrau von Werner Günthör? Ein gewichtiger Unterschied im Vergleich zu 2019 ist zudem die Listenverbindung mit der FDP. Diese spielt meist der grösseren Partei in die Karten. Dadurch scheint für die SVP gar ein achter Sitz möglich.
Zur SP: Hie und da war zu lesen, Tamara Funiciello müsse um ihren Sitz zittern.
Das halte ich für eher unwahrscheinlich. Ich glaube, dass die drei Berner Frauen – also Tamara Funiciello, Nadine Masshardt und Flavia Wasserfallen – ihre Sitze verteidigen. Plausibel ist ausserdem, dass die SP sich einen der beiden verlorengegangenen Sitze von 2019 zurückholt, allerdings tendenziell auf der Männerliste. Das Rennen wird zwischen Adrian Wüthrich und Ueli Schmezer entschieden.
Wobei für Flavia Wasserfallen jemand nachrutschen müsste, sollte sie in den Ständerat gewählt werden.
Genau. Hier können sich Andrea Zryd und Ursula Zybach die meisten Chancen auf einen Sitz ausrechnen.
Weiter gehts mit den Grünen, die vor vier Jahren ihre Sitzzahl von zwei auf vier verdoppeln konnten.
Wobei der Kampf um den vierten Sitz ein Hitchcock-Final war. Sollten die Grünen aufgrund der Umfragen einen Sitz verlieren, tippe ich am ehesten auf die gemässigte Christine Badertscher. Gefährdet ist allerdings auch Biobauer Kilian Baumann. Aline Trede ist Fraktionschefin im Bundesparlament, Nathalie Imboden verfügt über eine gute gewerkschaftliche Basis.
Bleiben wir im grünen Spektrum: Die Grünliberalen haben im Kanton Bern drei Sitze.
Ihre Vertreterinnen und Vertreter (Melanie Mettler, Jürg Grossen und Kathrin Bertschy, d. Red.) zeigten über die gesamte Legislatur hinweg immer wieder starke, prominente Auftritte. Sie werden die drei Mandate wahrscheinlich halten können, wenn auch sehr knapp.
Spannend wird es bei der FDP: Wer folgt auf Christa Markwalder, die abtritt?
Christian Wasserfallen wird sicher wiedergewählt. Hinter ihm ist das Rennen offen. Sandra Hess’ Ständeratskandidatur verleiht ihr einen gewaltigen Prominenzschub. Sie wird an Podien eingeladen, ist in den Medien präsent – und sie erzielte schon vor vier Jahren ein sehr gutes Resultat, belegte den ersten Ersatzplatz. Präsent ist aber auch Daniel Arn, Peter Haudenschild fällt durch eine intensive Kampagne auf. Mein Tipp: Sandra Hess schafft es. Generell liegt das Problem der Freisinnigen in einer gewissen Überalterung ihrer Stammwählerschaft. Durch die Listenverbindung mit der SVP und der aktuellen Themenkonjunktur gehe ich trotzdem davon aus, dass die FDP ihre zwei Sitze behält.
Interessant ist die Situation ausserdem bei der Mitte: Gelingt dem Berner Polizeidirektor Reto Nause wirklich der Sprung in den Nationalrat?
Klar ist: Lorenz Hess ist gesetzt, für den Ständerat ist er aber wohl kein Thema. Für Heinz Siegenthaler wird es eng, er wurde zuvor bereits dreimal abgewählt. Er duelliert sich mit Reto Nause und Michelle Renaud um den zweiten Sitz, bei diesen beiden dürfte es für Die Mitte wohl auch bleiben. Ein dritter Sitz scheint mir eher unrealistisch, jedoch nicht völlig unmöglich.
Reden wir noch kurz über die beiden Kleinparteien EVP und EDU.
Die Berner EVP besitzt eine enorm stabile Stammwählerschaft, deshalb besitzt Marc Jost gute Chancen auf eine Wiederwahl. Bei der EDU ist Andreas Gafner ein Phänomen: Er erhielt ein Nationalratsmandat mit gerade einmal 2,5 Prozent der Wählerstimmen, obwohl es rund 4 Prozent dafür benötigte. Der Sitzgewinn gelang indes einzig durch die Listenverbindungen mit sechs weiteren Kleinparteien. Das ist einer der Gründe, weshalb nun mehrere Parteistrategen beschlossen haben, mit möglichst vielen Listen anzutreten.
Die zahlreichen Listen fallen tatsächlich auf: Die Mitte tritt im Kanton Bern mit sechs Listen an, die GLP gleich mit neun. Bringt diese Strategie überhaupt etwas?
Martina Flick Witzig hat am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bern anhand der letzten Nationalratswahlen eine Auswertung vorgenommen. Sie zeigt, dass der Effekt im Vergleich zum Aufwand sehr bescheiden ist. Es ergeben sich zwar durchaus ein paar Promille mehr an Wählerinnen und Wählern, in der Regel führen die zusätzlichen Listen aber nicht zu einem Sitzgewinn. Eindeutig effektiver für zusätzliche Sitze sind dagegen Listenverbindungen.
Im Wettkampf um die beiden Ständeratssitze hat Werner Salzmann von der SVP eindeutig die besten Karten, er dürfte wiedergewählt werden. Offener ist das Rennen zwischen Alt-Regierungsrat Bernhard Pulver von den Grünen und SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen.
Am Schluss kann meiner Einschätzung nach Flavia Wasserfallen jubeln. Sie hat vieles richtig gemacht, ist eine eingemittete Sozialdemokratin. Das braucht es bei einer Majorzwahl, dazu spielt ihr der Frauenbonus in die Hände. Bernhard Pulver wiederum wird das Amt als Inselpräsident in Verbindung mit den Spitalschliessungen, selbst wenn er wenig dafür kann, in gewissen Regionen Stimmen kosten. Ausserdem übte er von 1997 bis 2018 ohne Unterbruch ein politisches Amt in der Stadt oder im Kanton Bern aus. Studien zeigen allerdings, dass Politiker nach mehr als zehn Amtsjahren schlechter gewählt werden, weil die Bevölkerung neue Gesichter sehen möchte.
Letzte Frage, die nichts mit dem 22. Oktober zu tun hat: Wird Matthias Aebischer Bundesrat?
Nein. Er dürfte von seiner Fraktion auch nicht aufs Ticket gesetzt werden.