Das Blinden- und Behindertenzentrum in der Länggasse in Bern, kurz B genannt, feiert in diesem Jahr sein 140-jähriges Bestehen. Grund, mit Dr. Philippe Giroud, dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung, über das Kompetenzzentrum für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu sprechen.
Wie sind Sie CEO dieser nicht alltäglichen Institution geworden?
Bei der Lungenliga, wo ich zehn Jahre tätig war, durfte ich eine hybride Organisation kennenlernen. Auf der einen Seite ist es eine Nonprofit-Organisation, andererseits haben wir ein «Kerngeschäft», das den Grundsätzen des Marktes unterworfen ist. Dieser Spagat hat mich sehr beeindruckt, die sinnstiftende Tätigkeit, aber auch Geld zu verdienen und nicht ausschliesslich von Spenden abhängig zu sein. Ein hybrides Unternehmen an der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Sozialwesen nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen zu führen reizte mich.
Hat sich Ihr Leben durch die heutige Tätigkeit verändert?
Ja, sehr stark. In der Zentrale der Lungenliga hatten wir keinen direkten Kontakt mit Patienten. Im B begegnen wir überall Menschen mit Beeinträchtigung, die im Gebäude wohnen und arbeiten. Das öffnete mir die Augen für die Vielfalt der Menschen. Diese Kontakte machen die Arbeit für mich und meine Kolleginnen und Kollegen sehr reich.
Haben Sie nach bald zwei Jahren den vollständigen Durchblick in diesem vielseitigen Unternehmen?
(Lacht) Ich bin bei etwa zwei Dritteln! Ich bin aber immer noch am Lernen, die Lernkurve ist zum Glück noch nicht zu Ende.
Das B feiert in diesem Jahr das 140-jährige Bestehen. Wie haben Sie dieses Jubiläum neben Ihren sonstigen Events begangen?
Wir sind eine nicht sehr stark nach aussen gerichtete Organisation. Wir waren an der Museumsnacht vom 15. / 16. März gemeinsam mit dem Schweizerischen Blindenmuseum mit einem Stand im Rathaus präsent. Ende April organisierten wir einen Medientreff, weiter beteiligten wir uns mit Bewohnenden und Mitarbeitenden am Grand Prix von Bern. Daraus resultierte eine schöne Berichterstattung. Ende August öffneten wir sämtliche Türen für das Publikum und zwar an unseren beiden Standorten im Liebefeld und in der Länggasse. Vor allem die vielen Gespräche mit den Länggasse-Nachbarn waren für uns sehr wertvoll. Wir sind ein offenes Begegnungszentrum, nicht zuletzt durch unser Bistro, die Seminarräume und die Bar 8 auf dem Dach. Damit können viele Barrieren in den Köpfen der Menschen abgebaut werden.
Sie beschäftigen über 340 Mitarbeitende. In der Verwaltung auch solche mit Beeinträchtigungen?
Im Backoffice weniger, weil Menschen mit visueller Beeinträchtigung häufig spezielle IT-Programme benötigen. Unsere eingesetzten Programme werden von den Herstellern leider nicht vollumfänglich barrierefrei angeboten.
Das Behindertengleichstellungsgesetz ist 20-jährig und dessen Forderungen sind noch lange nicht überall umgesetzt. Wie sieht das im B aus?
Wir erfüllen schon sehr viele Normen, wenn auch noch nicht überall alles dem Idealfall entspricht. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Unsere Glaseingangstüre weist zu wenig Kontraste auf. Wir haben diesen Mangel mit schwarzen und gelben Punkten behoben. Der Kontrast müsste aber gemäss Norm grösser sein, damit eine visuell beeinträchtigte Person den Kontrast klar erkennen kann. Bei der gegenwärtigen Sanierung der Wohngruppen legen wir unser besonderes Augenmerk auf Barrierefreiheit und Beleuchtung. Dazu haben wir auch den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV beigezogen. Die Beleuchtung wird gegenwärtig aus wirtschaftlichen Gründen auf LED umgestellt. Da achten wir minuziös darauf, dass die Räume optimal ausgeleuchtet werden, denn Licht ist bei uns ein wichtiges Thema.
Wie pflegen Sie den Kontakt zu Ihren Mitarbeitenden und Klienten?
Ich esse einmal im Monat mit einer Wohngruppe zu Mittag, um mich informell austauschen zu können. Regelmässig besuche ich unseren Standort Liebefeld und fühle so durch Gespräche «den Puls» der Mitarbeitenden. Es braucht aber Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Wenn Mitarbeitende kein Interesse an solchen Kontakten haben, muss ich das respektieren.
Welches sind derzeit Ihre grössten Herausforderungen?
Im externen Umfeld stellt zurzeit das kantonale «Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG)» die vermutlich grösste Herausforderung dar. Es ist am 1. Januar 2024 in Kraft getreten. Vorher wurden die Institutionen direkt vom Kanton finanziert. Neu stellt der Kanton den Menschen mit Beeinträchtigung ein individuelles Budget zur Verfügung. Die Personen können dann selber entscheiden, in welcher Institution oder ob sie begleitet selbstständig wohnen möchten. Hier besteht zurzeit für alle Organisationen eine gewisse ökonomische Unsicherheit. Wir begrüssen zwar den Systemwechsel sehr, weil Menschen mit Beeinträchtigung damit gestärkt werden und sie die Wahlfreiheit haben. Nach fast einem Jahr sehen wir aber noch nicht klar, wohin der Weg genau führen wird.
Wo möchten Sie noch besser werden?
Ich möchte das B in der Länggasse noch stärker als Begegnungsort und -raum positionieren, damit es noch durchlässiger wird. Das Image eines «geschlossenen Wohnblocks» möchten wir weiter abbauen. Dieser Weg muss für mich noch weitergehen. Unser Endziel ist eine inklusive Gesellschaft. Wir gehen mit unseren Leuten auch nach «draussen», nehmen an Anlässen teil wie an YB- und SCB-Matchs oder am Grand Prix von Bern. Wir nehmen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teil. Teilhabe ist uns allen im B sehr wichtig.
Welche konkreten Projekte sind zurzeit in der Pipeline?
Wir sind an der Überbauung im Viererfeld interessiert, um unseren Perimeter beispielsweise mit einer Wohngruppe noch ausdehnen zu können. Auch werden wir Immobilienverwaltungen kontaktieren, um ihnen inklusive Mieterkonzepte schmackhaft zu machen. Das heisst, dass die Verwaltung in einem Mehrfamilienhaus eine gewisse Anzahl Wohnungen für Menschen mit Beeinträchtigung reserviert und sich bei uns erkundigt, ob wir interessierte Klienten dafür hätten. Damit möchten wir in Bezug auf das Wohnen zu einer inklusiven Länggasse werden, wo wir im Moment unseren primären Wirkungsbereich haben. Weiter überlegen wir uns, wie wir die im Jahr 2023 erworbene Liegenschaft unseres Produktionsstandortes im Liebefeld langfristig nutzen können. Dort haben wir noch leere Flächen, welche für Co-Mietende mit Synergiemöglichkeiten zur Verfügung stehen.