Im Fotobuch «Spuren der Flucht» bündelt Klaus Petrus seine Langzeitrecherche über die Fluchtrouten auf dem Balkan. Petrus porträtiert Geflüchtete jenseits von gängigen Stereotypen und Klischees.
2016 machte sich Klaus Petrus, Fotojournalist und Reporter aus Biel, erstmals daran, die Fluchtrouten durch den Balkan zu dokumentieren, nachdem 2015 im Zuge der «Flüchtlingskrise» Millionen von Menschen aus den arabischen Staaten und Nordafrika Richtung Europa aufbrachen. Petrus suchte das Gespräch mit Menschen, die abseits der offiziellen Flüchtlingscamps während Wochen, Monaten und – wie sich herausstellen sollte – Jahren in Zelten, verlassenen Häusern und Ruinen leben.
Mit Bildern, die von Hoffnung, Freude, Verzweiflung und der Gewalt der Grenzpolizei erzählen, gewann Petrus 2022 den Swiss Press Photo Award. Das Fotobuch «Spuren der Flucht» vereint eine Auswahl der eindrücklichsten Bilder.
Petrus verzichtet darin auf Seitenzahlen, Bildlegenden und weiterführende Texte. Einzig der Umschlag, der sich als Poster auffalten lässt, liefert beidseitig bedruckt Textfragmente rund um Migration. Sie geben zwar eine kleine Orientierungshilfe, dennoch wird der Betrachter auf sich selbst zurückgeworfen. Petrus Bilder unterlaufen gängige Erwartungshaltungen und offenbaren so die Stereotypen, die oft unbewusst den Blick auf Geflüchtete und Migranten und Migrantinnen prägen.
Petrus, der 2012 seinen Job als Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bern an den Nagel hängte und neben seiner freiberuflichen Tätigkeit als Fotojournalist seit sechs Jahren beim Strassenmagazin Surprise arbeitet, beschäftigt sich immer wieder mit sozial Benachteiligten. «Ich habe mich schon früh für Grenzen, Mauern, Ränder und all die Phänomene, die mit Eingrenzung, Abgrenzung und Ausgrenzung zu tun haben, interessiert». So sei für ihn schnell klar geworden, dass im Zuge der Migrationskrise die Handhabung der Grenzen und der Umgang mit den Menschen, die am Grenzübertritt gehindert werden, eines der grossen Themen der nächsten Jahre werde.
Der Erweckungsmoment mit Amar Z.
Eine Begegnung mit Amar Z. aus Pakistan, den er 2017 in Horgoš an der serbisch-ungarischen Grenze trifft, wird für Petrus zu einer Art Erweckungserlebnis. Der Ingenieurwissenschaftler floh 2015 vor den Taliban und liess dabei Frau und Tochter zurück. Als Petrus Amar Z. für ein Bild fragt, hüllt sich dieser in eine Wolldecke und sagt: «Siehst du, wir haben gelernt für euch zu posieren.» Für Petrus wird klar, dass er einen anderen Zugang zum Thema finden muss. Er reist fortan immer wieder auf den Balkan, an die gleichen Orte den Grenzen entlang, auch wenn dort gerade «nichts los ist». Damit gewinnt er einen neuen Blickwinkel aufs Thema.
Petrus nähert sich behutsam den Menschen. «Das Vertrauen der Leute zu gewinnen, ist das Wichtigste, sonst komme ich gar nicht so nahe an sie heran». Während langen Gesprächen registriert er ihre Besonderheiten, die er später visuell festhält. Die Bilder ergänzt er mit Text. Gerade das Zusammenspiel von Bild und Text ist für ihn reizvoll. Er sucht nach spannenden Geschichten, die relevant, aber auch widersprüchlich sind, die herausfordern und Reaktionen hervorrufen.
Die Porträtierten in seinen Reportagen sind mehr als nur Opfer. Petrus ist einerseits Zeuge von Willkür, Ungerechtigkeit und Gewalt. Andererseits dokumentiert er aber auch den Alltag der Geflüchteten, der u.a. aus Kochen, Fussball- oder Cricketspielen besteht. Und auch Tiere tauchen auf den Bildern immer wieder auf.
Systematische Gewalt der Grenzpolizei
Fast schon idyllisch mutet das Bild an, das eine Gruppe junger Männer an einem Fluss, inmitten von sommerlichen Laub- und Nadelbäumen zeigt. Womöglich eine kurze Verschnaufpause, Erholung von den Wunden, welche die Grenzpolizei ihnen zugefügt hat. «Bald schon hat sich gezeigt, dass gewalttätige Übergriffe der Grenzpolizei keine Einzelfälle sind, sondern System haben», sagt Petrus. So trügen viele Menschen entlang der Grenzen Läsionen von brennenden Zigaretten. Spätestens ab 2017 verfolgten Menschenrechtsorganisationen die alarmierenden Berichte der Journalisten. «Gewisse Regierungen mussten zwar Stellung nehmen, aber das sich aufgrund journalistischer Intervention etwas bewegt, passiert höchst selten», so Petrus. «Für die Leute vor Ort kann man fast nie etwas machen, das ist auch nicht mein Anspruch. Ich möchte im Kopf der Leute hier etwas bewegen», so Petrus. «In Kriegsgebieten wie der Ukraine, Somalia oder Palästina sind wir Journalisten oft die einzigen, die nicht helfen, die den Leuten einfach eine Story abknüpfen und Bilder machen». Zum Glück seien andere da, die helfen.
Viele der Geflüchteten bleiben unterwegs stecken, probieren während Monaten und Jahren alternative Fluchtrouten aus, im Bewusstsein, dass Europa wohl doch nicht das gelobte Land ist, das sie sich erträumt hatten, gefangen auch in ihrer Scham, die sie davon abhält, zu ihren Familien zurückzukehren. Dafür könnte jenes Bild stehen, das eine Gruppe junger Männer in einer Ruine zeigt. Ein Lichtstrahl, der durch den Türrahmen dringt, flutet den Raum mit Licht.
«Spuren der Flucht» erlaubt einen Blick in eine Welt, die für die meisten von uns nur dunkel umrissen ist. Wer riskiert, genau hinzuschauen, entdeckt darin das Unerwartete im Vertrauten und wiederum die Abwesenheit von Erwartetem. «Alles was nicht erwartbar ist, lässt den Menschen hervorkommen, und damit entsteht automatisch auch Empathie», so Petrus.
Foto: Klaus Petrus, Gabrielle Christen Text: Bettina Gugger