Zum Tag der Nachbarschaft befragte der BärnerBär Ursula Rettinghaus, Projektleiterin in der Abteilung Familie und Quartier Stadt Bern, und Markus Flück, Quartierarbeiter Lorraine bei der Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit (VBG).
Warum braucht es überhaupt einen Tag der Nachbarschaft am 31. Mai?
Ursula Rettinghaus: Auch von privater Seite werde ich oft gefragt, weshalb die Stadt Geld ausgibt, um die Nachbarschaft zu stärken. Aber wir wissen, dass eine gut funktionierende Nachbarschaft einen wichtigen Faktor im Leben darstellen kann. Die Stadt hat als Legislaturziel 2020 bis 2024 eine Beteiligung und als Unterziel die «Stadt der Nachbarschaft» formuliert. Gerade bei der hochaltrigen Altersgruppe gibt es einen hohen Grad an Einsamkeit, zum Beispiel, weil viele nicht mehr mobil sind. Da sind Unterstützung und soziale Kontakte im Haus oder in der näheren Umgebung enorm wichtig.
Markus Flück: Nachbarschaft findet im Alltag bereits über kleine Kontakte statt. Der 31. Mai schafft die Gelegenheit, die Nachbarschaftsunterstützung ins Bewusstsein zu rücken. Das können durchaus kleine Gesten sein: sich bei den Nachbarn vorstellen, wenn man vor kurzem neu eingezogen ist. Das kann Präventivcharakter auf Konflikte haben, denn Nachbarschaft kann einerseits bereichernd und unterstützend, aber andererseits auch belastend sein. Eine Vorstellungsrunde kann die Grundlage bilden, allfälligen späteren Konflikten besser zu begegnen.
Rettinghaus: Viele scheuen Kontakte, weichen Konflikten aus. Das hängt mit unserer Kultur zusammen. Bedeutend scheint mir zu erwähnen, dass die Feier nicht zwingend am 31. Mai stattfinden muss. Hauptsache ist, dass etwas geschieht, wenn auch an einem anderen Datum. Es ist wichtig, dass man sich des Werts guter Nachbarschaft bewusst wird.
Nachbarschaftshilfe – vor allem eine städtische Notwendigkeit?
Rettinghaus: Ich bin als richtiges «Landei» in einem Dorf aufgewachsen und muss rückblickend sagen, dass ein Tag der Nachbarschaft auch uns nicht geschadet hätte. Gewiss, Nachbarschaft spielt in kleineren Strukturen tendenziell besser, aber in ländlichen Gegenden stellen wir mehr Ausschluss von Zugezogenen fest, die scheinbar nicht so ganz in die etablierten Strukturen passen.
Was hat die Pandemiezeit bezüglich Nachbarschaftshilfe bewirkt?
Flück: Beim Projekt «Nachbarschaft Bern» unserer Vereinigung geht es darum, Nachbarschafts-Tandems zu vermitteln, die höchstens 15 Gehminuten voneinander entfernt wohnen. Diese Hilfe lief während der Pandemie sehr gut. Man war ja mehrheitlich zuhause. Aber es entstanden natürlich auch Konflikte, zum Beispiel wegen Lärm. Nachbarschaft erhielt plötzlich einen grösseren Stellenwert, man begann sich füreinander zu interessieren, man nahm sich wahr, streifte die Anonymität ab.
Rettinghaus: Wir stellten eine enorme Solidarität fest, besonders in der Unterstützung älterer Menschen. Das war sehr eindrücklich.
In der Schweiz wird der Tag der Nachbarschaft seit 2004, in der Stadt Bern seit 2017 durchgeführt. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Rettinghaus: Wir konstatieren eine steigende Tendenz der Mitwirkung. In der Kommentarspalte bei der Bestellung der Fest-Kits gibts ermunternde und dankbare Meldungen. Beeindruckend ist die Vielfalt der Aktivitäten am Tag der Nachbarschaft. Da gibt es zig verschiedene Möglichkeiten, diesen Tag zu zelebrieren: Vom grossen Strassenfest bis hin zum Kaffeekränzli im Haus. Auf unserer Website haben wir mehrere Ideen aufgelistet.
Flück: Das ist auch meine Feststellung, der Tag der Nachbarschaft wird immer bekannter. Er ist für viele zum fixen Termin in der Agenda geworden. Die Nachbarschaftsgesten müssen nicht zwangsläufig mit aufwändiger Organisation verbunden sein. Das Verteilen eines Schoggistängelis als kleine Aufmerksamkeit bewirkt Zugehörigkeit und Dankbarkeit.
Wie präsentiert sich der aktuelle Stand für das Fest 2024?
Rettinghaus: Wir haben in diesem Jahr den Tag noch intensiver beworben, und zwar bei Kulturorganisationen, Kitas, Wohnbaugenossenschaften, Quartiervereinen, Leisten und weiteren Quartierorganisationen. Der Tag bietet auch vielen Institutionen Gelegenheit, sich zu öffnen und zu präsentieren. Eingebunden ist beispielsweise die Jugend-Job-Börse Bern, die in allen Quartieren Plakate anbringt. Neu ist in diesem Jahr auch die Zusammenarbeit mit den Kornhausbibliotheken, wo unsere Fest-Kits gratis abgeholt werden können.
Welche Stadtteile sind am aktivsten beim Tag der Nachbarschaft?
Rettinghaus: Aufgrund der Auswertungen der letzten Jahre engagiert sich der Westen der Stadt sehr stark, gerade dank der dortigen Quartierarbeit. Kleinere Feste finden vor allem in den klassischen Familienquartieren, wie zum Beispiel Breitenrain und Mattenhof, statt. Aber jeder Stadtteil macht mit. Unsere Auswertungen basieren auf der Anzahl bestellter Fest-Kits. Wir gehen aber davon aus, dass viele zusätzliche Feste stattfinden, ohne dass Fest-Kits bestellt werden. Einen weiteren Hinweis liefert uns die Verlosung, wonach die Teilnehmenden uns bis zum 7. Juni Bilder oder Texte ihres Festes übermitteln können.
Flück: Es wäre zwar zu begrüssen, etwas mehr zu wissen, wo was läuft. Aber es ist auch unser Ziel, dass die Menschen möglichst niederschwellig ihre Nachbarschaftsaktivität organisieren können, ohne Auflagen oder «Meldepflicht».
Rettinghaus: Genau. Wir wollen nur «ankicken», Hilfe zur Selbsthilfe bieten, sofern gewünscht.
Welches sind die häufigsten Aktivitäten am Tag der Nachbarschaft?
Flück: Das gemeinsame Essen wird am häufigsten gepflegt, mit einer Tavolata, mit einem Picknick in einem Park oder Garten, meist in Kombination mit Spielen mit Kindern.
Was unternehmen Sie persönlich am 31. Mai?
Rettinghaus: Ich möchte erstmals meine eigene Nachbarschaft einladen, aber nicht am offiziellen Tag der Nachbarschaft. Am 31. Mai werde ich mit dem Velo durch die Quartiere fahren, um zu sehen, was wo stattfindet.
Flück: In meinem Tätigkeitsgebiet, in der Lorraine, werde ich an den Aktivitäten teilnehmen und am Abend beteilige ich mich in meinem Wohnquartier Holligen an einer Tavolata.