Claudio Righetti spricht mit Alt-Bundesrätin Doris Leuthard über die Entstehung ihres Photo-Portraits für «501 Portraitwerk Schweiz», über Kunst und das Gesicht der Schweiz.
Liebe Doris, wir stehen in einem Raum umgeben von Gesichtern, Kunstfotografien des Künstlers Christian Scholz. Was ist für dich Kunst?
Das ist jetzt eine etwas schwierige Frage (lacht). Ich habe nicht zu allen Kunstformen einen Bezug – aber Malerei, Fotografie und Plastiken, das war schon immer meine Welt. In meiner beruflichen Arbeit leiste ich vor allem Kopfarbeit und die Kunst ist für mich zusammen mit Musik ein Bereich, in welchem ich mich entspannen und inspirieren kann, ein kreativer Gegenpol zu meinem Beruf.
Du bist jetzt auch «Teil» der Kunst geworden, mit deinem Porträt das Christian Scholz für sein Gesamtwerk «501 Portraitwerk Schweiz» von Dir realisiert hat. Wie fühlt sich das an?
So einiges war ich mir gewohnt von den Bundeshausfotografen – sie kamen für 5 bis 15 Minuten, dann war das Bild gemacht. Bei Christian war das ganz anders, als ich ihn kennenlernte war das der Beginn eines langen Prozesses, der mehrere Jahre gedauert hat. Zuerst gab es nur eine schriftliche Korrespondenz. Er begründete seine Anfrage indem er schrieb «sie haben spezielle Augen, ich möchte sie gerne portraitieren». Meine Antwort kam sofort: «Ich habe keine Zeit, ich muss Arbeiten» (lacht).
Wie ging es dann weiter?
Er hat drei Jahre lang an seinem Wunsch festgehalten, immer wieder geschrieben. Irgendwann war ich dann nicht mehr Bundesrätin, bewegte mich ausserhalb der Politik und so schrieb ich: «O.k. jetzt habe ich Zeit». So kam der Entschluss zustande.
Wie entstand Deine Aufnahme?
Ich dachte mir natürlich, das dauert nur ein bisschen länger als ich mir im Bundeshaus gewohnt war. Doch das war weit gefehlt: Es gab Vorgespräche, um uns kennenzulernen, Vertrauen aufzubauen, dann wieder Mails – so ging das hin und her und ich dachte schon, was wird das? Dann kam der Termin, ein halber Tag nahmen wir uns dafür Zeit. Das war die Fortsetzung eines Prozesses: Man spricht und plötzlich portraitiert er, völlig überraschend.
Was war in diesem Prozess für dich der «prägende» Moment?
Man muss sich das vorstellen: Ich durfte keine Schminke auftragen, keine Mascara, kein Lippenstift, nichts. Das erste Mal: Natur pur! Das mache ich sonst nie. Rückblickend weiss ich: Christian macht es mit seinen «Modellen» wie mit einer Zwiebel, löst eine Hautschicht nach der anderen, so lange bis er zum Kern vorgedrungen ist. Es ist ein sehr intensiver Prozess, so wie wenn man sich «selbst» portraitieren würde. Das heisst, man ist bereit dazu, während die Kamera portraitiert, seine eigene Persönlichkeit preiszugeben, sich zu zeigen, wie man ist, authentisch, ehrlich, verletzlich – am Schluss ist es eine Begegnung mit sich-selbst. Das war eine neue und interessante Erfahrung für mich.
Und die Fotografien sind alle in Schwarzweiss…
Es ist wohltuend, Christians Portraitkunst zu erleben – Schwarzweiss ist eine essentielle Art zu fotografieren und fordert eine hohe fachliche Qualität. Es geht bei all diesen Fotografien um Antlitz und Geschichte – im Hintergrund steht die eine Frage: Was ist eine Schweizerin, was ist ein Schweizer? Wir leben gerade in einer eher belastenden Zeit. Aber wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass gerade in Zeiten, wo Unsicherheit herrscht, Kunst und Kultur uns ablenken. Es ist eine Zeit, die uns auch wieder zum Sich-Öffnen zwingt.
Hat die Schweiz ein «Gesicht»?
Wenn wir an einen Italiener, einen Spanier oder Mexikaner denken, haben wir sofort ein Bild im Kopf. Von einem Schweizer oder einer Schweizerin gibt es das nicht. Das ist gut so, denn wir sind sehr vielfältig. Darin liegt aber auch eine Herausforderung. Mit seiner Fotografie-Kunst schafft Christian ein wunderbares Portrait über unser Land: Wir sehen bekannte und unbekannte, einfache und vom Leben geprägte Gesichter. Es sind Gesichter, die zur Schweiz gehören. Und das ist etwas spannend Neues.
Du hast als Bundesrätin viele politische Leader getroffen. Welchen Eindruck, welches «Bild», hatten sie von der Schweiz?
Die Schweiz zu erklären ist extrem schwierig. Schon unser Staatsystem, der föderale Aufbau ist extrem komplex. Wie wir abstimmen, wie wir entscheiden, Regierung und Parlament, das überfordert die meisten. Und dann kommen viele Klischees. Die Finanzkrise 2008/2009 war vielleicht fast am schlimmsten, man sah die Schweizer nur als Profiteure, die sich hinter dem Bankgeheimnis verstecken. Ich denke, da gibt es schon sehr viele Vorurteile. Bis heute sehen noch viele in Brüssel die Schweiz als Rosinenpickerin. Alle lieben die Berge – dieses Gesicht der Schweiz, die Seen, die Landschaften, die Sauberkeit, die Präzision, die Stabilität. Die Politik hat es viel schwieriger, sich ein Gesicht zu geben im Ausland.
Wenn Du all diese Gesichter hier siehst, diese Vielfalt und Diversität, der Menschen in der Schweiz – was nimmst Du für dich mit als Eindruck oder auch als Wunsch?
Ich hoffe, die Menschen werden davon inspiriert, wenn sie sehen, dass wir Schweizerinnen und Schweizer mindestens so vielfältig sind wie unsere Demokratie und unser föderal aufgebauter Staat. Hoffentlich bleibt davon möglichst viel in den Köpfen hängen, denn ich denke, ein Gesamtkunstwerk wie dieses, könnte einen neuen Eindruck hinterlassen, zu einer neuen Vorstellung der Schweiz führen, von wer wir sind. Und noch etwas Besonderes: Nach Schweden und Deutschland kam der Künstler in die Schweiz, und ist hier zum stolzen Schweizer geworden.
An dieser Stelle würde ich nun Dir eine Frage beantworten – doch diesmal möchte ich Deine Frage weitergeben an den Künstler Christian Scholz:
Frage von Doris L.:
«Warum faszinieren Dich Gesichter?»
Antwort von Christian S.:
«Unsere Gesichter sind nichts anderes als «Landschaften» und Zeit-Erscheinungen. Erstens zeigen sich in ihnen z.B. Ernährung, Herkunft, Alter, Arbeit, Erlebnisse; immer auch sensitive Fähigkeiten, oft ein ganzes Schicksal, nicht selten aktuelle Stimmungen. Aber zweitens offenbaren Gesichter eben auch eine Epoche! Im Fall meines «501» Portraitwerkes die aktuelle, jetzige Schweizer Zeit. Im 19. Jahrhundert sahen die Menschen hier im Land noch völlig anders aus. In 100 Jahren werden es wieder andere Gesichtslandschaften sein. Erst 2124 werden diese Menschen unsere gegenwärtige Schweizer Zeit in den Portraitmotiven erkennen können, d.h. die wirkliche Patina unserer Tage, Monate, Jahre. Das ist doch erstaunlich. Aber diese Vorstellung nach vorn und einiges mehr im heutigen Antlitz faszinieren mich.»