Jürg Halter spielt mit der Sprache

Für Gerechtigkeit und wider die Doppelmoral

«Sprachakrobat» Jürg Halter in seinem Stammlokal Café des Pyrénées in Bern.
«Sprachakrobat» Jürg Halter in seinem Stammlokal Café des Pyrénées in Bern. Foto: Neel Nowotny

Der Palmarès des 44-jährigen Berner «Sprachakrobaten» Jürg Halter ist schier endlos. Vom 15. November bis 21. Dezember tritt der Künstler mit seiner zweiten Solo-Ausstellung in Zürich vors Publikum.

Wir treffen Jürg Halter in seinem Berner Stammlokal, im Café des Pyrénées, kurz «Pyri» genannt. Hier kennt man ihn, er hat für das BärnerBär-Gespräch das ruhige Sääli im ersten Stock reserviert. Dichter, bildender Künstler, Performer, Rapper, Spoken Word Artist: Welche Rolle liegt ihm am nächsten? Jürg Halter kann und will sich nicht festlegen, er fasst sämtliche Funktionen als «Sprachkunst» zusammen, bezeichnet sich denn selbst auch als «Sprachkünstler». Die Bühne ist sein Zuhause, wo er seine Texte vorliest oder improvisiert, zusammen mit dem Publikum. Oft tritt er auch mit Musikern auf. Die Liste seiner Publikationen und Auftritte ist lang, sehr lang. Die Auftrittsorte reichen von Bern, Rotterdam, San Francisco, St. Petersburg, Kairo, Barcelona, Warschau bis hin nach Tokio, um nur einige zu nennen. 

Es ist Berufung
Wann gönnt er sich Ruhe? «Das habe ich bisher noch nicht geschafft», lacht er. Aber Jürg Halter relativiert: «Ich mache etwas, was ich selbst ausgewählt habe.» Er übt nicht einen Beruf aus, es ist Berufung. Er sieht seine Tätigkeiten als Privileg, wenn auch mit finanziellen Risiken verbunden. «Ich kenne nichts anderes als die Selbstständigkeit, schon mein Grossvater und mein Vater waren selbstständig­erwerbend. Ein Chef hätte es nicht einfach mit mir», schmunzelt er, obwohl ihm der Austausch in Teams wichtig sei.

Keine bestimmten Botschaften
Jürg Halter will mit seinen Darbietungen keine vorgefassten Botschaften vermitteln, möchte das Publikum nicht mit erhobenem Zeigefinger belehren. «Ich möchte die Menschen zum Nachdenken, zum Perspektivenwechsel, zur Differenzierung und zu Empathie ermuntern. Ich setze mich mit Dingen auseinander, die mich antreiben und reagiere auf die Ereignisse in meinem unmittelbaren Umfeld, aber auch auf jene weltweit», erklärt der Sprachkünstler. Er nennt einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn sein Eigen und hat eine «Allergie gegen Doppelmoral». Letztlich sei er permanent auf der Suche nach der Wahrheit, eine Suche, die nie abgeschlossen sei. Jürg Halter bezeichnet sich als «Antiideologen», er sei zunehmend kritischer geworden gegenüber allen Ideologien, «egal, ob sie von links oder rechts kommen oder religiös fundamentalistisch sind». 

Solche Ideologien gäben vor, auf alle Fragen klare Antworten zu haben. «Sie schreiben uns vor, wie wir zu denken haben! Als jemand, der an die Demokratie als einziges humanes Gesellschaftssystem glaubt, wehre ich mich mit allen meinen Kräften gegen antidemokratische Versuche», sagt Jürg Halter dezidiert. Die Demokratie sei nie perfekt. «Kunst ist nicht Politik, sondern ein Ort zum Anregen.» So freut er sich beispielsweise über unterschiedliche Interpretationen des Publikums zu einem seiner Gedichte: «Das gibt mir Denkansätze, die ich vorher gar nicht hatte!»

Lob von Jean Ziegler
Für seinen Erstlings-Roman «Erwachen im 21. Jahrhundert», der vor einigen Jahren im Literaturclub von SRF1 besprochen wurde, erhielt er von der deutschen Schriftstellerin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich viel Anerkennung. Es sei ein Versuch, sich mit der Welt, in der wir leben, auseinanderzusetzen, ihr etwas entgegenzusetzen. Das sei grosse Kunst und habe sie sehr beeindruckt, so Heidenreich. Aber auch der streitbare Soziologe und Politiker Jean Ziegler war des Lobes voll und bezeichnete den Roman als «absolut faszinierend», es sei ein Buch des Zorns und eine brillante Gesellschaftskritik, aber zugleich ein Buch der Hoffnung. Ziegler sieht in Jürg Halter «eine grossartige neue politische Stimme». Was machen solche Lobeshymnen mit Jürg Halter? Dieser gibt sich bescheiden: «Gewiss, es ehrt und freut mich natürlich, dass Jean Ziegler als politischer Mensch, dessen Ansichten ich nicht immer teile, sich mit meinem Buch auseinandergesetzt hat. Aber vielleicht hat er einige Aspekte in meinem Roman übersehen, die sein Weltbild ebenfalls kritisch beleuchten», lächelt Jürg Halter verschmitzt.

Schutz vor Informationsüberflutung
Vom 15. November bis 21. Dezember 2024 präsentiert sich Jürg Halter dem Publikum in der Galerie Stephan Witschi in Zürich mit seiner zweiten Solo-Ausstellung. Kann er dazu schon etwas preisgeben? «Der Titel lautet ‹No Resistance› (kein Widerstand)», verrät Jürg Halter. Neue Bilder seien zu sehen, die sich pointiert, provokant und hinterfragend mit Gegenwartsthemen auseinandersetzten. Die zentrale Frage laute: «Wie können wir für unsere Werte einstehen und uns gleichzeitig schützen vor der Informationsüberflutung, die letztlich zur Informationsüberlastung führt?» Wir befänden uns diesbezüglich in einem dauernden Konflikt. Jürg Halter möchte wissen, was mit Menschen geschieht, die sich von den überbordenden Informationen in den sozialen Medien beeinflussen lassen? «Sind wir noch fähig, zu filtern? Durch die sozialen Medien werden Fake News stark verbreitet und von vielen geglaubt. Oft fehlt die kritische Medienkompetenz, das stimmt nachdenklich», zeigt er sich besorgt. 

Damit spricht Jürg Halter ein aktuelles Thema an. Der Politologe Michael Hermann hat jüngst in der Tageszeitung «Der Bund» festgehalten, dass Social-Media-Plattformen ein hohes Potenzial für Emotionen böten. Auf den sozialen Medien werde die Bildung von Meinungsblasen verstärkt. «Man erhält dort so viele Inhalte, dass man völlig bedient ist. Es gibt gar keinen Grund mehr, klassische Medien zu konsumieren», so Hermann weiter. Umfragen in Deutschland hätten gezeigt, dass sich von den jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren die Hälfte nur noch über die sozialen Medien informiert. Damit nicht genug: Das Forschungszen­trum für Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich stellt in seinem neuesten «Jahrbuch Qualität der Medien» fest, dass die Zahl der Menschen, die fast gar keine Nachrichten mehr konsumieren, auf einen Rekordwert von über 46 Prozent angestiegen ist. «Dieser Prozess ist eine Gefahr für die Demokratie», resümiert Michael Hermann. Die Arbeit des Demokraten und Sprachkünstlers Jürg Halter wird so schnell nicht ausgehen – seine Performance ist nötiger denn je.

PERSÖNLICH

Jürg Halter wurde am 23. Juni 1980 geboren und wuchs in Bern auf. Seit dem Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern ist er als selbstständiger Schriftsteller, Lyriker, bildender Künstler, Musiker und Spoken Word Artist tätig.
Er arbeitete bisher u. a. mit Künstlern wie Stephan Eicher, Sophie Hunger, Baschi, Endo Anaconda, Kuno Lauener und Bettina Oberli zusammen.
Jürg Halter ist «unüberzeugter» Single und lebt meist in Bern.

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