Chalet Muri Gastgeber Claudio Righetti spricht mit dem Schweizer Regisseur und Oscar-Preisträger Xavier Koller über Menschen, Heimat und Film.
Lieber Xavier, mit «Reise der Hoffnung», der Geschichte eines wahren Flüchtlingsdramas in der Schweiz, hast du 1991 den begehrtesten Filmpreis, den Oscar, gewonnen. Wie siehst du diesen Film heute?
Das Problem hat sich nicht geändert, es ist nur grösser geworden. Damals ging es um den Irak-Krieg mit vielen kurdischen Flüchtlingen, die auch aus Syrien und der Türkei kamen. Damals haben die Schlepper Millionen verdient, heute verdienen sie Milliarden. Die Flüchtlinge sehnen sich nach Veränderung und Verbesserung ihrer Zukunft. Für mich ist es wie Wasser, das immer seinen Weg zum Meer findet. Früher war es ein Bach, heute ist es ein Fluss. Und gerade, weil sich die politische Situation so entwickelt hat, dass es in vielen Ländern Unterdrückung gibt, sei es religiös, politisch oder wirtschaftlich, sind die Menschen gezwungen, sich zu orientieren und dorthin zu gehen, wo sie eine Chance sehen.
Die Hoffnung bewegt die Menschen …
Und lässt sie Risiken eingehen. Dieser Gedanke hat mich damals schon fasziniert, was Menschen bereit sind zu opfern für eine mögliche Zukunft, für sich und ihre Kinder. Denn letztlich geht es immer um die Kinder, die eine Chance haben sollen, sich in einer neuen Umgebung zu entwickeln.
Was bedeutet Heimat für dich?
Heimat, das ist für mich da, wo ich gerade bin, und das ist nicht unbedingt ein Ort für mich, sondern das ist ein Gefühl, ein Gefühl, von Menschen umgeben zu sein, die ich mag, egal in welchem Kulturkreis ich mich bewege. Ich liebe die Schweiz, aber ich habe keinen Nationalstolz, ich bin «Schweizer», das muss ich nicht betonen. Ich bin gerne hier, ich mag die Leute, ich habe viele Freunde hier. Aber ich bin auch gerne in Amerika oder in Griechenland, wo ich gelebt habe, oder in Italien. Heimat ist für mich da, wo ich mich wohl fühle – also nicht ein Gebiet mit Grenzen.
Und doch sind deine Filme wie «Der Schwarze Tanner» oder «Schellen Ursli» tief in unseren Schweizer Traditionen verwurzelt, erzählen von unseren Eigenheiten und Besonderheiten …
Ich verleugne meine Wurzeln nicht, das habe ich nie getan. Das sind natürlich Dinge, die mir vertraut sind, die ich mit Kopf und Herz kenne, weil ich meine Jugend dort verbracht habe, in der Zentralschweiz zum Beispiel. Die Musikalität der Sprache, die Art, wie die Menschen miteinander umgehen, diese Vielschichtigkeit der Kommunikation, die oft durch Schweigen mehr sagt als durch Worte, fasziniert mich und ist ein Teil von mir. Ich liebe diese Menschen, diese «schrägen Vögel». Ich mag sie, ich fühle mich ihnen verwandt, ich bin einer von ihnen, ich kann denken wie sie, wenn ich will. Und das ist meine Gabe, die ich von meiner Herkunft mitbekommen habe.
Eine Geschichte, die mich als Berner besonders berührt hat, ist die von «Eine wen iig, dr Dällebach Kari», im Film verkörpert vom Berner Schauspieler Nils Althaus – was hat dich an diesem «Berner Unikum» so fasziniert?
Nicht die Legende hat mich interessiert, sondern der Umstand, dass jemand, der eine sichtbare Behinderung hat, Friseur wird und sich jeden Tag mit seiner «Hasenscharte» im Spiegel anschauen muss, und akzeptieren muss, wie er ist. Dass man so sein kann, wie man ist und dass er der Zuneigung einer schönen Frau misstraut … wie kann sie mich lieben, wenn sie mich anschaut, muss sie doch sehen, wer ich bin. Aber sie sieht eben das Innere dieses Menschen, nicht das Äussere, und das ist die Erfahrung, an der er immer gezweifelt hat. Diese Ambivalenz fand ich faszinierend. Mich hat interessiert, wie dieser Mensch mit sich selbst umgeht, mit seiner Behinderung, mit seinem Lebensschicksal. Dieser Weg zur Selbstakzeptanz ist eine Arbeit, die diese Menschen leisten müssen, damit sie eine Existenz haben können, die positiv ist.
Dein Film «Schellen Ursli» war mit fast einer halben Million Kinobesuchern einer der erfolgreichsten Schweizer Filme. Ist der Schweizer Film selbstbewusst genug?
Ich kenne den Schweizer Film zu wenig, weil ich lange weg war. Im Spielfilmbereich kenne ich nur wenige bemerkenswerte Filme. Interessanter sind die Dokumentarfilme – die waren schon immer interessant und sind es bis heute geblieben. Bei den Spielfilmen fehlt mir der Mut zu «grossen» Geschichten. Mit «grossen» Geschichten meine ich nicht besonders teure, sondern inhaltlich grosse. Im Moment sind einige im Entstehen, auf die ich gespannt bin. Ich finde einfach, dass sich in den mehr oder weniger erfolgreichen Filmen eine Spiessigkeit breit gemacht hat, die mir unheimlich auf die Nerven geht, eine Gefälligkeit, die man früher den alten Filmen aus den 60er Jahren vorgeworfen hat. Ich wünschte mir, man würde kritischer, griffiger, eigenwilliger an die Themen herangehen und nicht in der Gefälligkeit des Fernsehens. Das hat mich in meinen Erwartungen ein bisschen enttäuscht.
Das «Zurich Film Festival» feiert gerade sein 20-jähriges Jubiläum. Der Schweizer Film ist im nationalen Markt verankert und nur wenige Filme erreichen internationale Präsenz. Könnte sich das einmal ändern?
Es gibt nicht den Schweizer Film, es gibt nur Filme aus der Schweiz. Und das ist der Unterschied. Ich habe schon damals, gleich nach dem Oscar, an einem Treffen in Locarno gesagt, dass das Schweizer Subventionssystem völlig veraltet ist, weil es immer nur den einzelnen Film sieht.
Und heute, über 30 Jahre später?
Ist es immer noch dasselbe! Die Gremien in den Kantonen, in jeder Region lesen zwar Drehbücher, haben aber oft keine Ahnung, was es heisst, einen Film zu realisieren. Meiner Meinung nach sollte man alle Fördergelder der Kantone und Stiftungen in einen Topf werfen und ein Studiosystem schaffen, wie es zum Beispiel in Dänemark existiert. Produzenten könnten ihre Projekte einreichen, die Filme würden voll finanziert und dann im Studiosystem wieder weltweit vertrieben. Das würde von vornherein ein internationales Abnehmernetz sichern und viele Millionen für eine nachhaltige Filmkultur einbringen. Aber alle haben Angst, dass es dann für sie zu wenig sein könnte.
Und zum Schluss: Welche Frage darf ich dir beantworten?
Xavier: Warum hast du dich aus der Politik zurückgezogen – ich dachte, du wolltest Stadtpräsident von Bern werden?
Claudio: Es war ein bisschen wie mit Dällebach Kari: Je länger ich in den Spiegel der hiesigen Kommunalpolitik blickte, desto mehr merkte ich, wie weit ich davon entfernt war, hier mit meinen Ideen für Bern etwas bewegen zu können. Es macht für mich mehr Sinn, mich in dynamischeren Bereichen für Bern zu engagieren. So kann ich vielleicht noch zu Lebzeiten etwas bewegen (lacht).