Chalet Muri Gastgeber Claudio Righetti unterhält sich mit Igor Ustinov über künstliche Intelligenz, Vorurteile und seinen berühmten Vater Sir Peter Ustinov.
Lieber Igor, wir stehen hier im Chalet Muri neben einer Skulptur von dir, einer Hand aus Bronze (siehe Foto). Was erzählt uns diese Plastik?
Diese Hand taucht, wie das Leben auch, aus dem Nichts auf. Sie streckt mit der Krümmung ihrer Geste die Finger dem Himmel zu, als wolle sie uns daran erinnern, dass wir, nachdem wir alles erfasst haben, die Welt des Geistes grüssen können.
Der Geist befindet sich heute in einem starken Wandel – unsere Identität wird zunehmend von der künstlichen Intelligenz und Algorithmen bedrängt. Wie siehst du diese Entwicklung?
Eine komplexe Frage! Ich könnte mehrere Antworten darauf geben, aber wähle hier die des Bildhauers: Ich beobachte bereits durch die Kunst die Auswirkungen der virtuellen Welt auf unser Bewusstsein als eine Entfernung von der Realität, einen Verlust des Kontakts mit dem Körperlichen, der materiellen, natürlichen Realität der Welt. Das geht so weit, dass man sagt, nur weil man es denkt, wird es schon zur Wirklichkeit! Der Kontakt mit der Materie, mit dem eigenen Körper, mit der realen Substanz unserer Welt ist wesentlich für die Entdeckung des eigenen, des wahren Selbst. Ich fürchte um die Verarmung des Bewusstseins und die Gefahr einer wachsenden Unfähigkeit, die Realität so zu betrachten, wie sie wirklich ist!
Du stammst aus einer Familie, die für ihre geistreichen Gedanken und für ihre kosmopolitische Lebensweise berühmt ist. Was macht deine Vorfahren so aussergewöhnlich?
Ihre vielfältigen menschlichen Interessen und ihre Kreativität! Meine Familie hat nicht weniger als 50 Künstler hervorgebracht, von denen die bekanntesten mein Vater, Sir Peter Ustinov, Alexander Benois, Maler und Dekorateur von Serge Diaghilev oder die Komponisten Tscherepnin Vater und Sohn waren. Abgesehen von der genetischen Verbindung denke ich, dass meine Familie humanistische, menschliche und humanitäre Werte pflegte und förderte als Priorität! Letztendlich ist es das, was ich demütig mit meiner Kunst, der Ustinov-Stiftung und des Ustinov-Instituts in Wien heute fortführe.
Dein Hauptinteresse gilt der Bildhauerei. Aber du hast auch ein Biologiestudium an der Universität in Paris abgeschlossen, Gesang am Konservatorium studiert und du bist Erfinder: Das «Ustinov Construction System» wurde bei der 45. Internationalen Messe für Erfindungen in Genf ausgezeichnet. Wie kann man vieles so gut machen?
Tun! Das ist der erste Schritt! Der Schweizer Künstler Ben, den ich sehr verehre und der leider kürzlich verstorben ist, hat mir eines seiner Werke geschenkt. Darauf steht: «abandonne jamais» (gib niemals auf). Es hängt in meinem Atelier und erinnert mich jeden Tag daran, mein Bestes zu geben.
Dein Vater Sir Peter wurde zweimal mit einem Oscar ausgezeichnet und inspirierte als Humanist zahllose Menschen auf der ganzen Welt. Wie würdest du sein geistiges Erbe charakterisieren?
Ich möchte eine Facette beleuchten, die weniger bekannt ist als die des Schauspielers, nämlich seine Arbeit als Schriftsteller oder sogar seine Rolle als Kanzler der Universität von Durham in England. Das geistige Erbe, das du ansprichst, sehe ich in Verbindung mit unserer Familienkultur: Sir Peter hat es meisterhaft verstanden, diese kreative Geisteshaltung in Worte zu fassen und einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln.
Sir Peter war der festen Überzeugung, dass sich «ein Engagement für eine gute Sache immer lohnt». Wie darf man das verstehen?
Jeder persönliche Einsatz für das Gemeinwohl stärkt die Seite des Guten und adelt den Menschen, der es leistet, indem er sein Dasein mehr Sinn verleiht – um auf das Bild der Hand am Anfang zurückzukommen: Es ermöglicht uns, eine menschliche Geste zu tun …
Gemeinsam mit ihm hast du die Sir Peter Ustinov Stiftung ins Leben gerufen – das war im Jahr 1999. Welche Ziele verfolgt die Stiftung heute?
Am Anfang war das Ziel, den Ruhm meines Vaters dafür zu verwenden Geld für benachteiligte und leidende Kinder zu sammeln. Mein Vater war damals auch UNICEF-Botschafter. Nach einigen Jahren haben wir den Kampf gegen Vorurteile auf Ebene der Bildung noch hinzugefügt, ein Thema, das meinem Vater ebenfalls am Herzen lag. Heute sind wir in Deutschland mit acht Peter-Ustinov-Schulen präsent, in England mit dem Ustinov College in Durham und wir unterstützen weltweit Projekte, die Kindern in schwierigen Lebenssituationen bessere Bildungschancen ermöglichen – unter anderem in Nepal, Afrika und Südamerika.
Warum sind Vorurteile noch immer so verbreitet? Dein Vater hat darüber sogar ein Buch geschrieben, sein letztes, mit dem Titel «Gib Vorurteilen keine Chance».
In der Tat werden Vorurteile unwiderruflich benutzt, um schändliche Dinge zu rechtfertigen, die man begangen hat oder die man begehen will oder die man begeht! Aber abgesehen von dieser Rolle sind Vorurteile Teil unseres Denksystems. Sie zu verstehen ist der erste Schritt, um sich vor ihnen zu schützen und ihre negativen Auswirkungen zu vermeiden. Vorurteile sind wie die Anti-Körper des Denkens, ein Schutz vor dem Unbekannten – vor dem Andersartigen: Sie können durch gegenseitigen Respekt überwunden werden, dieser wiederum kann aber nur auf dem Fundament der Wahrheit und der Realität aufgebaut werden. Die Stiftung arbeitet an einem Bildungsmodul, das die Verankerung von Vorurteilen durch Aufklärung und persönliche Entwicklung in einem kulturellen Umfeld gegenseitigen Verständnisses und Respekts verhindern soll.
Du stehst kurz davor, das Schweizer Bürgerrecht zu erlangen. Als erster deiner ruhmreichen Familie. Was ist das für ein Gefühl?
Die Wahl einer Nationalität ist ein aussergewöhnlicher Schritt. Motiviert durch meine persönliche Geschichte, durch die Werte, die ich in der Schweiz wiederfinde, und durch die Tatsache, dass wir nicht nur Kinder von Eltern sind, sondern auch Söhne oder Töchter von Landschaften. Ich trage die Schweizer Landschaft in meiner Seele.
Und zum Schluss: Welche Frage darf ich dir beantworten?
Igor: Ich möchte dir als erstes danken, dass du seit mehr als 10 Jahren ein aktives Mitglied unseres Stiftungsrats bist. Wie steht es deiner Meinung nach um die kulturelle Freiheit in der Welt?
Claudio: Mit dem Zusammenrücken der Menschen über die neuen Technologien wie Internet, Social-Media etc. müsste die kulturelle Vielfalt eigentlich aufblühen wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Doch es sind leider die extremen Haltungen, die sich erhärtet haben. Toleranz und Geistesfreiheit haben es nach wie vor schwer, ich würde sogar behaupten: Sie sind die wahren Diskriminierten in einer Weltgemeinschaft, die sich immer mehr entfremdet als zusammenzuwachsen. Gerade darum ist es so wichtig, dem weltoffenen Geist von Sir Peter Ustinov Gehör zu verschaffen, denn seine Worte haben bis heute nichts von ihrer Inspirationskraft und Aktualität verloren! cr