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Gassenarbeiterin Melina Wälti

Nicht achtlos vorbeigehen

Melina Wälti ist seit drei Jahren für die Gassenarbeit tätig. Fotos: Fabian Hofmann

Seit 35 Jahren kümmert sich das Team der kirchlichen Gassenarbeit in Bern um Menschen aus dem Lebensraum Gasse. Melina Wälti geht auf sie zu und bietet bedingungslose Hilfe an.

Dauerregen, grauer Himmel und Kälte. Vor der Tür des Büros der kirchlichen Gassenarbeit im Berner Länggassquartier ist es heute ungemütlich. Gassenarbeiterin Melina Wälti wirft einen Blick hinaus, zwei ihrer Kolleginnen sind gerade unterwegs. «Sie machen jetzt eine Runde von etwa zwei Stunden, besuchen die Plätze, wo sich Menschen aufhalten», erzählt Wälti. Dabei gehen die Mitarbeitenden zu den Leuten, versuchen ins Gespräch zu kommen, erklären das kostenlose Angebot der Gassenarbeit, bieten Hilfe an, verteilen Visitenkarten. Die Reaktionen reichen von Freude über Zurückhaltung bis hin zu Ablehnung. Manchmal helfe auch nur schon die ehrliche Frage: «Wie geht’s?» Wälti und ihre Kolleginnen und Kollegen bleiben stets flexibel, denn: «Den typischen Menschen von der Gasse gibt es nicht.» Von 16 bis 80 Jahren, unterschiedlichen Herkunftsländern und Status, sozialen Schichten, Ethnien und Bildungsgraden ist alles dabei. Ob jemand obdachlos ist, ist für die Gassenarbeiter vielfach nicht leicht erkennbar: «Man sieht es den Leuten nicht an.» Bei den Runden versteht sich Wälti als Besucherin im Sozialraum der Menschen. Auch wenn diese an öffentlichen Plätzen leben: «Ich betrete in dem Moment ihr Wohnzimmer.»

Es braucht keine Anmeldung
Seit drei Jahren arbeitet Wälti, die soziale Arbeit studiert hat, bei der Gassenarbeit, die durch Mitgliederbeiträge, Spenden und einzelne Stiftungsgelder finanziert wird und jährlich ca. 1500 Menschen begleitet. Die Wohnungslosigkeit ihrer Klientel hat dabei unterschiedliche Gründe. «Zu uns kommen sowohl Menschen, die keine Ausbildung haben als auch solche, die früher ein eigenes Unternehmen leiteten, Familie hatten und die bürgerlichen Idealvorstellungen lebten. Durch diverse Krisen sind sie in eine Abwärtsspirale geraten.» Wälti und dem Team ist eine offene und wertungslose Haltung wichtig. Sie stellen die Bedürfnisse des Gegenübers in den Mittelpunkt. Jeden Dienstag und Donnerstag steht die Bürotür der Gassenarbeit offen, man darf ohne Anmeldung erscheinen. Man muss nichts leisten oder einen Ausweis vorzeigen. Oft geht es um Vermittlung von Hilfsangeboten, Schlafplätzen,
Gesundheitsfragen, Suchtproblematiken, Familienanliegen, Gewalterfahrungen, Arbeitssuche oder den Austausch mit Behörden. «Die Leute kommen mit Fragen aus allen Lebensbereichen zwischen Geburt und Tod zu uns», fasst es die Gassenarbeiterin zusammen. Auch simple Dinge wie Hygieneartikel, Hundefutter oder gespendete Lebensmittel und Gutscheine verteilt die Gassenarbeit. Einmal im Monat gibt es eine Wundversorgung auf der Gasse und im Büro. «Denn für viele ist der Gang in ein Spital oder zu Nachuntersuchungen eine grosse Hürde. Oder sie haben schlicht zu wenig Verbandsmaterial und Reinigungsmöglichkeiten.» Zudem hat die Gassenarbeit eine Tierärztin, die die tierischen Begleiter des Klientels untersucht und für kleines Geld impft oder kastriert.

Nicht selten kommt es vor, dass jemand einen Termin verpasst. Wälti sieht das gelassen. Hier haben alle eine zweite Chance. «Und auch eine dritte, vierte, fünfte. Wenn nicht wir, wer dann?» Im Bild der sozialen Auffangnetze bezeichnet sie die Gassenarbeit als die Institution, die Menschen hilft, die bereits auf dem Boden angekommen sind. «Jeder Mensch hat Rechte.» Wenn diese von Behörden nicht eingehalten oder zu Unrecht Bussen verteilt werden, erwacht Wältis Kämpferinnenherz, schliesslich ist soziale Gerechtigkeit ein Ziel, das die Gassenarbeit verfolgt.

Für sichere Orte sorgen
Wie auch ihren vier Kolleginnen und Kollegen ist ihr der parteiische Einsatz für Menschen auf der Gasse wichtig. Wälti nennt das für sich «radikale soziale Arbeit». «In anderen Institutionen kommt die Interessenvertretung für die Klientel in meinen Augen oft zu kurz.» Um die Lebensumstände der Betroffenen zu verändern, setzt sich die Gassenarbeit auch politisch ein, verfasst Medienmitteilungen, veranstaltet Infoanlässe. «Ein solches Engagement ist umstritten. Aber wir mischen uns politisch ein, weil wir ein guter Seismograf für die Bedingungen sind, unter denen die Menschen auf der Gasse leben müssen. Wir können die Anliegen von der Basis nach oben tragen.» Wälti findet, dass man das System den Menschen anpassen muss und nicht umgekehrt.

Die Behörden täten zu wenig, dazu kommen Sozialabbau und die Teuerung. Jetzt im Winter sind die Notschlafstellen wieder komplett ausgelastet, es gibt zu wenig Plätze. «Es kann nicht sein, dass dort ein Mensch anklopft, keinen Platz findet und wenn er dann zu uns kommt, bleibt uns nichts anderes übrig als ihm einen Schlafsack in die Hand zu drücken», schildet sie. Ausserdem fehle Bern eine städtische tägliche Gassenküche. Wälti ist eine Befürworterin des «Housing first»-Ansatzes: Um den Menschen wieder auf die Beine zu helfen, sollte man zuerst Wohnraum zur Verfügung stellen. «Dann können sie ihr Leben neu ordnen.» Doch bezahlbaren Wohnraum und kleine Apartments gäbe es in Bern zu wenig. Hinzu kommen die Vorbehalte der Nachbarschaft. «Ja, unsere Klientel ist nicht immer leise, viele haben einen Hund. Sie sind von psychischen und von Sucht-Erkrankungen betroffen.»

Wälti weiss, wie sehr aber eine Chance das Leben eines Menschen verändern kann. «Vor einigen Wochen konnten wir jemanden ganz rasch in einer Notwohnung unterbringen. Die Person darf dort ein bis zwei Monate bleiben und war sehr glücklich, obwohl es dort quasi nur ein Bett hatte. Das zeigt, wie viel ein sicherer Ort mit Privatsphäre wert ist und zur psychischen Gesundheit beiträgt.»

Wälti gehen die Schicksale nahe. Sie sieht, wie belastend ein Leben auf der Gasse sein kann: neben Obdachlosigkeit und Armut haben sie Angst vor Gewalt und Missbrauch, leiden unter sozialer Isolation und Einsamkeit, gerade während der Festtage.

Seit der Gründung der Gassenarbeit 1988 hat sich viel verändert. Standen früher die offene Drogenszene und den daraus resultierenden Probleme bzw. die Schadensminderung im Vordergrund, sind heute die Anliegen vielfältiger. Die Prävention von Wohnungslosigkeit und Minderung der Armut ist wichtiger, ebenso die Vernetzung von Hilfsangeboten. «Dass immer mehr Menschen ihre Wohnung nicht mehr zahlen können, ist ein neueres Phänomen.»

Dennoch ist das Problem öffentlich zu wenig gesehen und anerkannt. «Oft wird gesagt, dass wir kein Obdachlosigkeitsproblem haben. Aber es gibt dafür kein Monitoring in der Schweiz.» Statt Ignoranz wünscht sich Wälti mehr Humanität gegenüber Menschen auf der Gasse. «Oft fühlen sie sich unsichtbar, weil die vorbeiziehenden Leute wegschauen, die Armut nicht ertragen können. Auch wer in dem Moment nichts spenden kann oder mag, zeigt mit einem Lächeln, dass er dem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet.»

PERSÖNLICH

Melina Wälti wohnt in Nidau in einer grossen Wohngemeinschaft. In ihrer Freizeit geht die Gassenarbeiterin klettern und engagiert sich im Vorstand von Actio Bern, der Fachstelle für Sozialhilferecht.

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