Kaspar Zehnder

«Carmen erzählt die Geschichte eines Femizids»

Kaspar Zehnder gab sein Debut als Dirigent in der Mailänder Scala. Foto: Helen Lagger

Der Berner Kaspar Zehnder dirigiert Bizets «Carmen» im Rahmen der Sommeroper Selzach. Im Gespräch verrät er, warum die titelgebende Frau von der Strasse anfangs vom Publikum verschmäht wurde.

«Carmen» ist die meistgespielte Oper überhaupt. Dabei war Georges Bizets Carmen zur Zeit ihrer Entstehung ein Skandal, weil die folkloristischen Elemente in der Musik und die anrüchige Frau von der Strasse, dem damaligen Publikum missfielen. Nun wird «Carmen» in der Sommeroper in Selzach gespielt. Der Berner Kaspar Zehnder fungiert als Dirigent. Seine Rolle versteht er als «Nachschöpfer» des Komponisten. Es gehe darum, die Partitur lebendig zu machen. Die Geschichte der Originaloper basiert auf einer Novelle von Prosper Mérimée (1803 – 1870). Carmen ist eine realistische Milieustudie, die aus dem Leben von Arbeiterinnen in einer Tabakfabrik in Sevilla erzählt. Carmen, die freiheitsliebende Protagonistin, wird von ihrem einstigen Geliebten, am Ende erstochen. «Ein klassischer Fall von Femizid», so Zehnder, der aber betont, dass zumindest musikalisch, Carmen am Ende triumphiere. «Sie ist zwar tot, aber ihre Kraft überlebt», so der Dirigent. Zu Bizets Zeit, war «Carmen» ein revolutionärer Bruch mit der bisherigen Operntradition. «Carmen ist ein Strassenkind, eine Roma, eine Prostituierte», so Zehnder über die legendäre Figur. Für das Paris von 1875 sei das zu weit gegangen. «Bizet war auf dem Weg, die Gattung Singspiel zum Bühnendrama, das zum Spiegel der Gesellschaft wird, umzuwandeln.»

Flamenco und Kastagnetten
Auch musikalisch ging «Carmen» neue Wege. Das Publikum fand es unpassend, Folklore im Opernkontext zu hören. Schliesslich sind es gerade diese Passagen, die in die Operngeschichte eingegangen sind. In der so genannten Seguidilla etwa, kommen Kastagnetten zum Einsatz, in der Selzacher Inszenierung wird auch Flamenco getanzt. Zehnder dirigiert die Sommeroper zum ersten Mal. Zwischen 2012 – 2022 war er als Dirigent am TOBS (Theater Orchester Biel Solothurn) tätig. «Selzach liegt zwischen Biel und Solothurn, ich freute mich sehr, dieses Mandat anzunehmen.» Mit der Regisseurin und Opernsängerin Maria Riccarda Wesseling und der Hauptdarstellerin, der Mezzosopranistin Deborah Saffery, stehen zwei Frauen im Mittelpunkt, die sich intensiv mit der Figur und Partitur, sowie mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft auseinandergesetzt hätten. Auch Zehnder kennt «Carmen» von Kindsbeinen an. «Meine Mutter war Opernsängerin, mein Vater ein Arzt, der auch ein leidenschaftlicher Kammermusiker war.» Pianisten gingen im Haus ein und aus, um mit der Mutter zu proben. Zehnder stammt aus einer grossen Familie und ist das Jüngste von fünf Geschwistern. «Alle spielten Klavier oder ein Streichinstrument, nur einen Bläser gab es noch nicht.» Die Mutter habe gemerkt, dass er gut mit dem Atem umgehen könne und so habe er sich schliesslich für die Flöte entschieden.

In Paris in Klausur
Seine ersten Förderer, die Flötistin Heidi Indermühle und der Dirigent Ewald Körner, seien mit der Familie befreundet gewesen. Bereits im Alter von 22 Jahren hatte Zehnder, der an der Hochschule der Künste in Bern «Flöte» und «Dirigieren» studierte, Lehr- und Solistendiplom, sowie das Diplom als Dirigent erlangt. Der an der HKB unterrichtende, langjährige Leiter des Kammerchors Jörg Ewald Dähler, ermöglichte es Zehnder, zum ersten Mal als Flötist in einem professionellen Orchester aufzutreten. Bereits während des Gymnasiums hatte er auch mit dem Dirigieren begonnen. Nach seiner Ausbildung hatte der junge Musiker Lust, ins Ausland zu gehen und zog nach Paris. Dank eines so genannten Migros-Stipendiums konnte Zehnder sich dort ganz auf seine Musik konzentrieren. «Manche gehen in ein Kloster in Klausur, ich ging in die Grossstadt.» Die wichtigsten Symphonie-Orchester der Welt, hätten dort gespielt, von den Berliner Philharmonikern bis zum London Symphony Orchestra. «Für mich prägende Konzerterlebnisse, die ich in mich aufsog.»

Wie ein Kapitän
2007 gab Zehnder sein Debut als Dirigent an der Mailänder Scala. Am Dirigieren fasziniere ihn, dass man koordiniere und teambildend arbeite. «Während die Spieler jeweils nur ihre Stimme vor sich haben, siehst du als Dirigent die Partitur mit allen Stimmen.» Es gehe darum, die Fäden zusammenzuhalten, ein wenig wie dies ein Kapitän auf einem Schiff mache. An Bizets «Carmen» gefällt Zehnder die Farbigkeit und der Kontrastreichtum. Die Geschichte sei aktuell, könnte leider auch heute noch passieren, so Zehnder. Er googelt. «Jede Woche passiert in der Schweiz ein Femizid.» Ni Una Menos – nicht eine weniger – heisst der Schlachtruf von Aktivistinnen, die Frauenmorde, die lange als Kavaliersdelikte galten, auch als solche benennen. «Carmen» durch eine feministische Brille zu betrachten, dürfte sich lohnen. Schliesslich kritisierte bereits Mérimée mit seiner Novelle die toxischen Auswirkungen des Patriarchats.

PERSÖNLICH

Kaspar Zehnder wurde 1970 in Riggisberg geboren. Er hat an der Hochschule der Künste in Bern «Flöte» und «Dirigieren» studiert und sich an der European Mozart Academy, in Paris und Siena weitergebildet. 1999 bis 2020 leitete er die Murten Classics, 2004 bis 2012 auch die Musik am Zentrum Paul Klee und von 2012 bis 2022 war er Chefdirigent beim Theater Orchester Biel Solothurn. Zehnder ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt in Bern.

SPIELDATEN

Premiere

Freitag, 2. August, 19 Uhr | Passionsspielhaus, 2545 Selzach

Weitere Daten

So, 4.8., 17 Uhr
Mi, 7.8., 19 Uhr
Fr, 9.8., 19 Uhr
Sa, 10.8., 14 Uhr (für junge Leute)
So, 11.8., 17 Uhr
Di, 13.8., 19 Uhr
Do, 15.8., 19 Uhr
Sa, 17.8. 14 Uhr (für junge Leute)
Sa, 17.8., 19 Uhr
So 18.8., 17 Uhr (Dernière)

sommeroper.ch

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