Anneli Binder ist die künstlerische Leiterin der Dampfzentrale. Aktuell freut sie sich auf das Festival «Tanz in Bern» – auf internationalen Tanz inklusive haariger Momente.
«Ist es nicht einfach wunderschön?», sagt Anneli Binder und meint das Foyer der Dampfzentrale, in dessen industriellem Ambiente eine riesige Disco-Kugel hängt. Seit 2016 ist Binder die Co-Geschäftsleiterin und künstlerische Leiterin der traditionsreichen Institution. Binder ist ausgebildete Tänzerin. Durch sie ist wieder mehr Tanz im eigentlichen Sinne – Binder spricht von «Dancy Dance» – ins Haus eingekehrt. Sprich, Virtuosität und Bewegung werden hoch gewichtet. Aktuell freut sich Binder auf das Festival «Tanz in Bern», das unter dem Motto «ensemble» (Siehe Box) internationale Kompagnien vereint. «Ich liebe das Berner Publikum», so Binder, die während des Festivals, jeweils das Gefühl hat in einer Weltstadt zu leben. Die Offenheit des Publikums sei gross, auch Neuem gegenüber. «Dieses Haus, dieser Ort, diese Szene ist grossartig.» Das erste, das sie bei ihrem Stellenantritt gemacht habe, sei die Dampfzentrale zu öffnen. Wohnungen für Künstler:innen ermöglichen so genannte «Residencies», die es den Tanzschaffenden erlauben vor Ort zu kreieren. Das Publikum kann an den teils öffentlichen Proben teilnehmen.
Tanz ums Haar
Zugehörigkeit und Identität – das sind zwei wichtige Themen, die am diesjährigen Festival verhandelt werden. Der Titel «Ensemble» spielt sowohl auf die französische Bedeutung «Zusammen» sowie auf die Bezeichnung für eine Tanz- oder Theatertruppe an. Die Tänzer und Tänzerinnen des Ensembles der kanadischen Choreografin Marie Chouinard sehen alle ähnlich aus: Sie haben nackte Oberkörper, bunte Perücken und grellfarbige Hosen. Man folge dann aber den einzelnen Figuren, die mal von der Gruppe ausgeschlossen und dann wiederaufgenommen würden, so Binder. Mit «Hairy» steht ein Stück des jungen, litauischen Choreografen Dovydas Strimaitis, der die Haare in seiner Choreografie als Gestaltungsmittel einsetzt. Er lässt die Tänzerinnen, die in Latexkostümen stecken, unter anderem zu einer Partitur von Bach headbangen. Binder kannte Strimaitis bereits als Tänzer und hatte eine Probe seines Stückes besucht. «Die unterschiedlichsten Haare scheinen auf der Bühne ein Eigenleben zu führen», fasst sie begeistert zusammen.
Berufsfindung
Binder selbst kam relativ spät zum Tanz. «Ich wollte mit 16 Jahren eine professionelle Ausbildung beginnen und dafür mein Abitur schmeissen.» Heute sei sie dankbar, dass ihre Eltern sie dazu anhielten, den Abschluss zu machen. Sie wurde nach dem Abitur an der Tanzschule «Rambert» in London aufgenommen und konnte in der Compagnie Richard Olton tanzen. «Contemporary Dance wurde dort aus der Musik heraus erschaffen», so Binder. Olton war vom Stil des berühmten amerikanischen Tänzers und Choreografen Merce Cunningham (1919 – 2009) inspiriert. Bis ins hohe Alter Tänzerin zu sein, ist bekanntlich schwierig. Binder war sich dessen bewusst und merkte, dass sie sich für den Beruf der Intendantin, sowie für Kulturpolitik interessiert. «Ich wollte hinter die Kulissen blicken.» Bevor sie Leiterin der Dampfzentrale wurde, hatte sie als Assistentin ihres Vorgängers Georg Weinand gearbeitet. Als sich die Dampfzentrale und Weinand voneinander trennten, rückte Binder nach. Wie begeistert man das Berner Publikum für Tanz? Das ist eine Frage, die sie als künstlerische Leiterin stark umtreibt. Sie selber tanzt nur noch privat, etwa im Ausgang zu Klängen der feministischen DJ-Person Larataqué, die unter anderem Afrobeat auflegt. «Ich habe bis zum Morgengrauen getanzt.» Oder sie nehme auch mal am Format «Wild Card» der Dampfzentrale teil, wo am Sonntag zum Sound von DJ Martin Schick gemeinsam getanzt werde.
Rebellische Pfarrerstochter
Wie war es als Einzelkind von zwei Pfarrer-Eltern aufzuwachsen? «Früher habe ich dagegen rebelliert», so Binder. Doch sie merke je länger desto mehr, dass Kunst und Religion nicht so weit auseinander lägen, wie man meinen könnte. «Es geht in beiden Bereichen darum, dass es etwas gibt, dass über uns selbst hinausgeht.» Die ethischen Werte, die ihr die Eltern vermittelt hätten, hätten sie geprägt. «Es geht mir darum, mein Gegenüber ernst zu nehmen und ihm offenherziges Interesse zu zeigen.» Für die Dampfzentrale wünsche sie sich noch mehr Barriere-Armut, wie sie es nennt. Es gebe noch Mängel – etwa, dass eine Tänzerin im Rollstuhl keine Duschmöglichkeiten habe. «Absolut barrierefrei sind wir wohl nie. Aber man kann daran arbeiten.»