Sarah Elena Müller ist Musikerin und multimediale Autorin. Ihr Roman «Bild ohne Mädchen» wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert, das zweite Album ihrer Spoken-Word-Band «Cruise Ship Misery» soeben getauft.
Meine Augen hängen im Gesicht wie ein Gewicht – so lautet eine Songzeile in einem Lied der Spoken-Word-Band «Cruise Ship Misery». Für die Texte, die Beats und die Synthesizer-Klänge ist Sarah Elena Müller zuständig, während die Sängerin Milena Krstić die Lyrik ins Berndeutsche überführt. Am Vorabend des Treffens mit dem BärnerBär hatte Müller mit ebendieser Band einen Auftritt in Zürich. «Ich sehe aus wie ein Gespenst», findet sie. Es sei intensiv gewesen. Das neue Album mit dem Titel «Brutto Inland Netto Super Clean“ wurde im Februar in Bern getauft. Es geht um Themen wie Sucht, Überwachung, Stigmatisierung und mentale Gesundheit. Schwere Themen, die dank eines wilden Stilmixes auch mal tanzbar daherkommen. Als «ein gleichzeitig literarisches wie musikalisches Erlebnis», beschreibt Müller die Auftritte. «Heftige Lebenslagen fordern heftige, künstlerische Antworten», sagt sie auf die Frage, warum ihre Texte teils so düster sind.
Niemand sieht etwas
Mit etwas Heftigem hat sie sich auch in ihrem Erstlingsroman «Bild ohne Mädchen» beschäftigt. Mit nichts geringerem als Kindsmissbrauch. «Ich habe das Buch von hinten nach vorne geschrieben», so die Autorin. Dort, wo die Geschichte endet, wäre noch viel Material vorhanden gewesen, erklärt sie. Zu ihrer Hauptfigur, dem von einem Missbrauch im linksalternativen Milieu betroffenen Mädchen, gab es viel Text aus dem Erwachsenenalter, der im Buch, das 2023 für den Buchpreis nominiert war, allerdings nicht vorkommt. Der Täter ist ein Nachbar der Eltern, zu dem das Mädchen jeweils fernsehen geht. Das Verhalten des Kindes verändert sich, es macht ins Bett. Wie konnten das Offensichtliche alle übersehen? Diese Frage stellt man sich auch als Leserin. Zu Recherchezwecken sprach die Autorin sowohl mit einem Täter wie auch mit von Missbrauch Betroffenen. Nach moralischen Urteilen sucht man in Müllers Buch vergeblich. «Kunst soll nicht mit dem moralischen Fingerzeig daherkommen, sondern uns in etwas reinziehen, und etwas durchleben lassen», findet sie. «Ich bin mit all meinen Figuren gnädig.» Das man als Leserin selbst an seiner Wahrnehmung zu zweifeln beginnt, ist kein Zufall. «Es kann uns allen passieren etwas zu übersehen», so die Autorin.
Von Affen und Forscherinnen
Dass Müller den Missbrauch im linksalternativen Milieu, dem sie selbst entstammt ansiedelt, spiele hingegen keine grosse Rolle. «Es kann überall passieren.» Wobei links und rechts sich gerne gegenseitig mit Vorwürfen eindeckten. Steht sie unter Druck, nach diesem von Kritiker:innen viel gelobtem Buch, ein weiteres Werk zu veröffentlichen? Müller winkt ab. «Bis ich mit meinem zweiten Buch fertig bin, kennt man mich gar nicht mehr», sagt sie lakonisch. «Wenn Du schreiben willst, musst Du aufhören darüber zu grübeln, was andere erwarten.» Tatsächlich ist die Autorin aber schon an einem neuen Thema dran. Sie beschäftigt sich aktuell mit Menschenaffen und so genannter Ursprungsforschung. «Mich interessiert, was Menschen sich über die Gemeinsamkeiten mit Affen erzählen.» Die Langzeit-Feldforschung dreier Wissenschaftlerinnen in den 60ern, die sich jeweils mit Orang-Utans, Schimpansen und Gorillas beschäftigt hatten, widersprachen früheren Annahmen. So verfügten die Affen beispielsweise über mehr Empathie als bisher gedacht. Warum man Frauen dafür einsetzte? «Sie galten wohl als genaue Beobachterinnen, waren zäh und erfinderisch», wähnt Müller.
Von Krähen und Menschen
Sie selbst ist zur Beobachterin einer anderen Spezies geworden. Neben ihrem Wohnblock in Bümpliz lebt eine Saatkrähen-Kolonie. Die Tiere sind für ihre Schüchternheit bekannt. «Ich dokumentiere die Vögel seit vier Jahren», so Müller. Gleichzeitig zeichnet sie Gespräche mit den Menschen des Blockes auf und plant daraus ein Hörspiel über das Zusammenleben von Menschen und Krähen. Das Experimentieren mit verschiedenen Medien und Textformen liegt Müller. Während Corona schrieb sie ein so genanntes Virtual-Reality-Theaterstück, wobei verschiedene Performer:innen im virtuellen Raum auf Zuschauer:innen trafen und sich dabei durch verschiedene Ebenen eines Texts der Lyrikerin Ilse Aichinger (1921 – 2016) spielen konnten. Müller ist ein Tech-Nerd, unabhängig davon, ob sie ein Hörspiel konzipiert oder für Beats sorgt. «Ich liebe es, mich in technische Details hinein zu fuchsen.»