Soeben wurde Lucia Kotikova von der Zeitschrift «Theater heute» zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gekrönt. Das Ensemblemitglied von Bühnen Bern steht unter anderem im Stück «Blutbuch» von Kim de l’Horizon auf der Bühne. Im Gespräch verrät sie warum das Stück ebenso provokant wie lustig ist.
«In der Familie meines Vaters ist man sehr theatralisch», so die Schauspielerin Lucia Kotikova zu der Frage, woher ihre Spiellust stamme. Sowohl ihre Oma wie auch ihr Vater könnten wunderbar andere Leute imitieren und hätten einen Hang zum Komischen. Kotikova selbst hat sich eher einen Namen mit düsteren oder zumindest ambivalenten Figuren gemacht. Seit der Spielzeit 2021/22 gehört sie zum Schauspiel-Ensemble bei Bühnen Bern und wurde kürzlich von den Kritikern der Zeitschrift «Theater heute» zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres gewählt. Die 1998 in Dortmund geborene Darstellerin fällt auf der Bühne mit einer besonderen Intensität auf. Zweimal schon spielte sie in Shakespeare-Inszenierungen.
2023 als Malcolm und als Hexe in «Macbeth» und 2022 als Amazonenkönigin Hyppolyta. Die Premiere fand just in diesem Moment statt, als der Ukrainekrieg ausbrach. Kotikova wandte sich ans Publikum mit dem Wunsch Geld zu spenden, aber auch dem Aufruf, nicht gleich schlecht über jemanden zu denken, der russisch spräche. Sie selbst stammt aus einem jüdisch-ukrainischen Elternhaus, ihre Muttersprache ist russisch. Sie habe als Kind viel Fernsehen geschaut. «Wir hatten vier Fernseher in einer Dreizimmerwohnung.» Kotikova war inspiriert von Schauspielerinnen und Moderatorinnen wie der russischen Fernseh-Persönlichkeit Anastassija Jurjewna Saworotnjuk ebenso wie von international bekannten Schauspielerinnen wie Mila Kunis oder Rachel Weisz. Sie verpatzte ihr Abitur –
«Mathe hat mich nicht interessiert» – und machte ein praktisches Jahr, um ein Fachabitur abzuschliessen, wie es in Deutschland möglich ist.
Aus dem echten Leben
Am Schauspielhaus Bochum konnte sie während eines Jahres in der Requisite arbeiten und lernte dort Hausregisseur Roger Vontobel kennen, der aktuell Leiter der Sparte Schauspiel bei Bühnen Bern ist. Kotikova entdeckte ihre eigene Spielfreude und sprach in Hannover an der Hochschule für Musik, Theater und Medien vor. An der Aufnahmeprüfung schlüpfte sie unter anderem in die Rolle des Antihelden «Raskolnikow» aus Dostojewskis «Schuld und Sühne». «Er möchte beweisen, dass er töten kann, ohne Schuldgefühle dabei zu haben», so Kotikova. Dabei gleite er zunehmend in ein Delirium ab. Sie wurde von der Schule aufgenommen und konnte bald am Theater grosse Rollen, wie jene der Ismene in «Antigone» spielen. Wie nähert sie sich einer Figur an? «Man darf nicht zu viel überlegen, damit man flexibel bleibt.» Eine eigentliche Methode habe sie keine. Ich denke mir, es gibt diesen Menschen wirklich, nähere mich ihm aus dem echten Leben an. «Jede Figur niest, hustet und verspricht sich», so die Darstellerin. Ausserdem habe sie von all ihren Rollen gelernt, dass die unwahrscheinlichste Reaktion einer Figur oft die Spannendste sei.
Gogol und Hannah Arendt
Ihren bisher prägnantesten Auftritt bei Bühnen Bern hat Kotikova mit einem Monolog. Sie spielt die Ich-Erzählfigur in «Blutbuch», einem Stück nach dem gleichnamigen Roman von Kim de l’Horizon, der für sein vielschichtiges Werk 2022 sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis erhielt. Es geht um eine Blutbuche und im Mittelpunkt steht ein Mensch, der von diesem Baum ebenso fasziniert ist, wie von seinen weiblichen Vorfahren – der Grossmutter und der Mutter. Bühnen Bern liefert beim Stückbeschrieb eine Triggerwarnung mit: «Die Inszenierung enthält Schilderungen von expliziten sexuellen Handlungen und rassistische Sprache.» Kotikova spricht im Stück das Publikum direkt an, liefert ein Solo, das Kritiker und Publikum geichermassen begeistert. «Blutbuch» ist so genannte Autofiktion, es ist unmöglich zu wissen, was die nonbinäre Figur tatsächlich erlebt hat und was erfunden ist. Kotikova spricht etwa einen Text, der angeblich die Mutter der Ich- Erzählfigur geschrieben hat. «Ich dachte irrtümlicherweise, es sei echt, das könne unmöglich erfunden sein. Aber eigentlich spielt das überhaupt keine Rolle.» Als nächstes wird Kotikova in «Der Revisor», einer Komödie von Nikolai Gogol und als Hannah Arendt im Dokumentartheater «Eichmann» auf der Bühne stehen. Das Vertrauen zum Publikum müsse man sich aufbauen. «Am Schönsten ist es, wenn es dir gelingt, dass die Leute in einem eigentlich tragischen Moment lachen, sich wiedererkennen.»