Christiane Wagner leitet das Theater an der Effingerstrasse. Starke Geschichten, Publikumsnähe und regionale Bezüge liegen der gebürtigen Deutschen am Herzen.
Eine riesige, rausgestreckte rote Zunge, die an das Logo der Rolling Stones denken lässt, bildet zurzeit die Bühne im Theater an der Effingerstrasse. Es geht allerdings nicht um Rock n’Roll im aktuellen Stück, sondern um sexuellen Missbrauch. «Prima Facie – ein Kreuzverhör» ist kein leichter Stoff. Im Stück der australischen Autorin Suzie Miller geht es um eine Anwältin, die bisher Täter verteidigte, und plötzlich selbst zum Opfer wird. Theaterleiterin Christiane Wagner dazu: «Starke Geschichten, Themen, die uns als Gesellschaft bewegen, sind in unserem Spielplan zentral.» Doch auch der regionale Bezug ist ihr wichtig. Welche Geschichten stecken in Bern? Das Stück «Der vergessene Prozess» (ab April 2024) der Schweizer Autorin Gornaya etwa, setzt sich mit einer Gerichtsverhandlung in den Dreissigerjahren auseinander. Es geht um die Protokolle der Weisen von Zion, wobei ein Berner Anwalt im Fokus steht. Wagner kam 2021 unverhofft zu ihrer Funktion als Theaterleiterin. Ihr Vorgänger Alexander Kratzer hatte sich mit dem Theatergründer Markus Keller überworfen und musste das Theater nach nur einer Spielzeit wieder verlassen. Wagner war zu jenem Zeitpunkt bereits als Dramaturgin im Einsatz. 2001, hatte die gebürtige Deutsche, erstmals am Theater an der Effingerstrasse als Schauspielerin vorgesprochen. Sie hatte damals schon ein Tourneeangebot in der Tasche und liess sich schliesslich von ihrem damaligen Partner überreden, doch noch nach Bern zu fahren. Es ging um die Rolle der Antoinetta im Stück «Ein besonderer Tag», nach dem gleichnamigen Film von Ettore Scola. Die von ihr gespielte Hausfrau und ihr homosexueller Nachbar verweigern sich dem Faschismus. Wagner nahm die Rolle an. Der damalige Leiter Markus Keller und der Regisseur Stefan Meier waren ihr auf Anhieb sympathisch gewesen.
Bern als Schneekugel
Schliesslich verliebte sich Wagner, die anfangs für verschiedene Rollenangebote zwischen Deutschland und der Schweiz hin- und herpendelte, in die Aarestadt. «Als ich über die Kornhausbrücke lief, die Altstadt und die Berge sah, war es um mich geschehen», erinnert sie sich. Bern sei ihr wie eine heile Welt unter einer Schneekugel erschienen. Später habe sie natürlich gemerkt, dass es auch hier Probleme gebe, zum Beispiel mit suchtkranken Menschen. Doch das Positive überwiegt. «Ich schätze die kulturelle Vielfalt hier», so Wagner. Konkurrenz empfindet sie als belebend: «Jedes Theater hat seine eigene DNA». Die Theaterleiterin näherte sich ihrer Wahlheimat auch als Autorin. 2011 gab sie gemeinsam mit dem Fotografen Michael Meier den Band «Bern – Gesichter einer Stadt» heraus. Die beiden, waren um ihre Geschichten zu finden, das Münster hochgestiegen, ins Krematorium oder in den Operationssaal der Pferdeklinik gegangen. Wagner ist überzeugt: «Geschichten können viel verändern.» Zum Theater fühlte sie sich bereits als Kind hingezogen. Wenn ihre Mutter sich schick machte, dann ging sie meistens ins Theater. «Es faszinierte mich und ich wollte jeweils wissen, wer das Stück geschrieben hat.» Im katholischen Internat, das Wagner besuchte, entdeckte sie ihre eigene Spielfreude. «Da wir nur Mädchen waren und ich ziemlich gross war, musste ich immer die Männerrollen spielen». Ein König in Ballettstrumpfhosen stellte sie dar und einmal sogar Jesus höchstpersönlich.
Mit Senta Berger im Film
Doch bis Wagner tatsächlich Schauspielerin wurde, war es ein langer Weg. Ein Leiter einer Theatergruppe – ein frustrierter Ex-Schauspieler – hatte ihr dringend von diesem Weg abgeraten. «Ich ging nach Heidelberg und studierte erstmals Germanistik und Kunstgeschichte.» Durch einen Freund, der Regie-Assistent war, lernte sie die renommierte Drehbuchautorin und Regisseurin Dagmar Damek kennen. Sie habe grosse Ehrfurcht vor ihr gehabt, so Wagner. Doch irgendwann platzte es während eines Gesprächs aus ihr heraus und sie verriet, dass sie eigentlich Schauspielerin werden wollte. Was sie denn spielen möchte, fragte Damek. «Was Dramatisches», antwortete Wagner. Prompt erhielt sie die Rolle einer Krankenschwester im Film «Gefangene Liebe» (1994) mit Senta Berger. Beim Film wisse man: «Jede Karriere beginnt mit einer Krankenschwesterrolle», so Wagner lachend. Am Münchner Schauspielstudio liess sie sich ausbilden, an der Badischen Landesbühne, fand sie ihr erstes festes Engagement. Und heute? Fehlt es ihr nicht, selbst zu spielen? «Überhaupt nicht. Die Bühne ist ja immer noch mein Lebensmittelpunkt», so Wagner. «Alles hat sich organisch ergeben.»