Lou Haltinner ist seit diesem Sommer festes Ensemblemitglied bei Bühnen Bern und probiert sich gerade in den unterschiedlichsten Rollen aus. In «Nimm die Alpen weg» kann man ihr beim Erwachsenwerden zuschauen.
«Am Morgen, wenn ich aufstehe, löse ich oft Kreuzworträtsel», verrät Lou Haltinner beim Gespräch im Bistro «Viktor», im Breitenrainquartier, wo die Schauspielerin gleich um die Ecke wohnt. Sie ist für ihr Schauspielstudium an der HKB (Hochschule der Künste Bern) von Basel nach Bern gezogen. Bereits während des Studiums konnte sie eigene Projekte entwickeln. Gemeinsam mit ihrer Mitstudentin Sophie Angehrn erschuf sie ein 30-minütiges Stück, in dem die unterschiedlichsten Formen von Zwängen eine Rolle spielen. «Es war kein klassisches Theater, eher eine Performance mit viel Körpereinsatz», so die Schauspielerin. Mit den unterschiedlichsten Theaterformen experimentiert Haltinner auch bei Bühnen Bern, wo sie seit diesem Sommer als festes Ensemblemitglied engagiert ist. Zuvor absolvierte sie dort, im Rahmen ihrer Ausbildung, ein Praktikum und stand unter anderem im Weihnachtsmärchen «Die unendliche Geschichte» von Michael Ende auf der Bühne. Sie schlüpfte dabei in viele kleine Rollen, stellte unter anderem das «südliche Orakel» dar. Im Ensemble fühle sie sich sehr wohl. Aktuell steht sie in den Stücken «Der Revisor» und «Nimm die Alpen weg» auf der Bühne.
Wir beissen zurück
«Nimm die Alpen weg» ist ein zeitgenössisches Stück aus der Feder des Autors Ralph Tharayil, der als Kind südindischer Eltern in Basel aufwuchs. In seiner Coming-of-Age-Geschichte geht es um zwei Geschwister, um das Fremdsein und Aufwachsen. Als ein neues Kind in die Klasse der Geschwister kommt, stellen diese fest, das auch andere «anders» sind. Haltinner und die Darstellerinnen sprechen alle gemeinsam den Text, eine eigentliche Rollenaufteilung gibt es nicht. Gemeinsam mit Regisseur Marin Blülle haben sie den Text im Kollektiv gekürzt und kompatibel fürs Theater gemacht, ohne die Sprache zu verändern. Diese sei sehr klar und poetisch. Haltinner gibt eine Kostprobe des Textes: «Wir können uns kaum berühren, wir sitzen uns im Nacken, wir beissen zurück.» Es gehe unter anderem um die Enge in der Schweiz, die Jugendliche empfinden können. «Daran kann ich anknüpfen», so die Schauspielerin. Ihre Jugend erlebte sie als sehr unaufgeregt. «Es machte sehr viel Spass und es gab auch schwierige Momente. So wie bei vielen Menschen.» Als 14-Jährige entdeckte Haltinner das Junge Theater Basel für sich. Sie spielte unter anderem im Stück «Don’t feed the Troll» unter der Regie von Suna Gürler mit. Alle Teenager spielten Teenager, die verschiedene Positionen zum Thema Mobbing einnahmen. «Theater ist immer politisch», findet die Schauspielerin. Man spiele mit jeder Figur eine, die für etwas stehe oder einstehe.
Abgedreht und gierig
Bei einem pfannenfertig geschriebenen Stück lese sie sich zuerst ein, entwickle man den Text während der Proben, sei das Improvisieren wichtig. «Ich lege einfach los.» Beruflichen Rat holt sich Haltinner unter anderem bei ihrer Mutter, der Schauspielerin (Fascht e Familie) und Drehbuchautorin Sandra Moser. Im Stück «Der Revisor» von Nikolai Gogol (1809 – 1852) schlüpft Haltinner in die Rolle der Tochter des Stadtpräsidenten. Regisseur Roger Vontobel versetzt die Handlung rund um Vetternwirtschaft und Korruption in die Jetztzeit. «Alle Figuren sind sehr überspitzt», so Haltinner. Viele seien abgedreht und gierig. Ihre Figur wirke vergleichsweise unschuldig, aber auch sie verfolge eine Agenda.
Im Theater probst
du acht Wochen
am Stück.Lou Haltinner
Schimmernde Schluchten
Auch Filmluft hat Haltinner bereits früh geschnuppert. So spielte sie als Achtjährige im Film «Happy New Year» des Schweizer Regisseurs Christoph Schaub. «Ich stellte ein Mädchen dar, das am Silvesterabend von seiner Mutter beim Nachbarn abgegeben wird», so Haltinner. 2021 wirkte sie im Spielfilm «Youth Topia» unter Regie von Dennis Stormer mit. In der Deutsch-Schweizerischen-Produktion geht es um eine Gruppe von jungen Leuten, die sich mit subversiven Strategien dem Arbeitsmarkt entziehen. Der Unterschied zwischen Film und Theater liege unter anderem in der unterschiedlichen Probedauer. «Im Theater probst du acht Wochen am Stück, beim Film gibt es oft nur wenige Probetage.» Haltinner mag beides und bevorzugt Rollen, die sie herausfordern. «Ich mag es, wenn eine Figur stark und zerbrechlich zugleich ist.» In dieser Spielzeit steht sie als nächstes gemeinsam mit den Ensemblemitgliedern David Berger und Stéphane Maeder auf der Bühne im Stück «Schimmernde Schluchten» von Anaïs Clerc. «Lustigerweise geht es wieder um ein Geschwisterpaar.», so Haltinner. Im realen Leben hat sie einen jüngeren Bruder. Manchmal vermisse sie Basel, doch Bern biete ihr viele Chancen. Berndeutsch spricht sie mit ihren Eltern, da diese ursprünglich aus Bern kommen. «Ich kann switchen», so die Schauspielerin.