Der Berner Künstler Jürg Halter ist mit einem neuen Projekt unterwegs. Im Interview spricht er über seine Texte, seine Vorbilder und seine Lieblingsplätze in Bern.
Achtung Niemand, so heisst das neue Musikprojekt von Jürg Halter, einem der prägendsten Schweizer Künstler seiner Generation. Nachdem er in den letzten Jahren vor allem als Schriftsteller von sich reden machte, ist er nun mit einem aussergewöhnlichen Spoken-Word-Musikprojekt zurück. Bereits als Rapper Kutti MC hatte Halter die Musikszene geprägt, hat mit Künstlern wie Stephan Eicher, Sophie Hunger, Polo Hofer, Baschi und Endo Anaconda Songs veröffentlicht. Daneben schrieb er preisgekrönte Bücher, gewann internationale Poetry Slam Wettkämpfe, machte Ausstellungen und das SRF widmete ihm einen ganzen Dok-Film. Bereits mit 43 Jahren kann er auf eine sehr erfolgreiche und besonders interessante Karriere zurückblicken. Doch Jürg Halter zieht es in weitere, von ihm neu zu prägende, künstlerische Felder. So setzt er jetzt mit Achtung Niemand – wie immer fernab vom Mainstream – neue Akzente.
Das neue Album «Wir sind gute Menschen», mitproduziert vom ehemaligen Lunik-Mastermind Luk Zimmermann, ist vor kurzem erschienen. Es ist ein poetisch eindringliches, provokantes, melancholisches und musikalisch vielfältiges und charakteristisches Album geworden – so sind Einflüsse aus Trip Hop, Jazz, Rap, Elektro, Chanson und Low Fi Pop auszumachen. Eine spannende, poetisch-musikalische Reise.
Das Album ist auf allen Onlineplattformen (Spotify, iTunes usw.) erhältlich. Zudem kann man das Album auch als LP u. a. im Stauffacher und bei Serge and Peppers Records kaufen. Infos dazu auf: juerghalter.com
Jürg Halter, viele Berner kennen dich als Kutti MC als du sehr erfolgreich in Berndeutsch gerappt hast. Hat es kommerzielle Gründe, dass du dich für Achtung Niemand für Schriftdeutsch entschieden hast? Es steht Dir damit ja nun auch der Deutsche und der Österreichische Markt offen?
Mir war Schriftdeutsch schon immer nahe. Meine Bücher, Theaterstücke und Texte schreibe ich alle in Schriftdeutsch. Bei den neuen Liedern, die ich schrieb, hat sich das so von ganz alleine ergeben. Hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich öfters in Deutschland und Österreich auftrete und was Neues wagen wollte. Aber an den Markt denke ich eigentlich nie, wenn ich Kunst mache. Dafür bin ich sowie ein zu unangepasster, freiheitsliebender Künstler.
Das Lied «Irgendwann am Abgrund die Erlösung» spielt in der Cuba Bar. Wie ist es dazu gekommen?
Am Anfang war ein intensives, dramatisches Gespräch mit einem Freund in der Cuba Bar, der gerne am Abgrund tanzte. Daraus ist ein Lied über Sucht, Selbstverlust, Freundschaft und Verzweiflung geworden. Ich bin öfters nachts unterwegs, ich weiss nicht genau, weshalb, wahrscheinlich weil ich ein Suchender bin und mich das Dunkle anzieht.
Welche Berner Künstler haben dich geprägt?
Endo Anaconda hat mich als Poet und mit seinem störrischen Unabhängigkeitswillen geprägt. Kuno Lauener mit seiner nüchternen, lyrischen Melancholie, der Filmemacher Peter Guyer mit seiner präzisen Beobachtungsgabe, Stephan Eicher mit seinem unbestechlichen Bühnencharme, der Musiker Mario Batkovic mit seiner bedingungslosen Tonkunst und Meret Oppenheim mit ihrer vielseitigen, künstlerischen Virtuosität. Könnte die Liste fortführen, aber die Uhr tickt! (lacht)
Auf deinem neuen Album gibt es auch Liebeslieder zu hören. «Du fehlst» ist schmerzhaft. Hast du damit eine persönliche Geschichte umgesetzt?
Wer ist an der Liebe noch nicht gescheitert? «Du fehlst» habe ich in einem Zug geschrieben. Es ist ein Lied über eine Liebe, die langsam vergeht. So heisst es im Refrain «Du fehlst, aber ich fühle es nicht mehr». Meine Texte schöpfe ich immer aus dem Leben.
Nicht nur dem Schmerz, sondern auch der Hoffnung wird ein Lied gewidmet. Mit «Vielleicht hilft dieses Lied» spendest du Zuversicht. Der Satz «Gib nicht auf, nimm es wieder mit dir auf» erklingt darin wie ein Mantra. Ist es ein Zuspruch an dich selbst?
Sicherlich auch. Gerade, wenn man öfters gegen den Strom schwimmt, so wie ich, braucht man Selbstvertrauen. Hoffnung aus sich selbst schöpfen zu können, ist nicht leicht, deshalb will ich andere dazu ermutigen.
Der Titelsong «Wir sind gute Menschen» ist sehr düster und klingt wie eine Abrechnung mit menschlicher Doppelmoral. Was hat dich zu diesem Lied bewegt?
Es ist ein Lied darüber, dass wir uns oft selbst betrügen. Wir wollen für andere gut aussehen, uns als «gut» darstellen. Anspruch und Wirklichkeit gehen dabei öfters mal auseinander. Man sagt zum Beispiel, man ernähre sich vegan, weil man umweltbewusst ist, und fliegt dann für eine Yoga-Woche nach Bali. Finde ich nicht so schlimm, aber wenn Menschen, die sich als tolerant bezeichnen, stets durch ihre Intoleranz auffallen, dann rege ich mich wirklich auf.
Welches sind deine Lieblingsplätze in Bern?
Ich starte mit einem Espresso im «Adrianos», nehme dann im «Les Amis» ein Ginger Beer, ziehe weiter in den «Aarber», wo ich was Kleines esse und einen Weisswein trinke. Gespräche und Zeit vergehen. Dann im «Pyri» einen zweiten Weisswein. Schon ist Mitternacht und ich finde mich im «Kreissaal» ein. Später dann, auf dem Nachhauseweg, gehe ich ein Stück weit der schönen, dunklen Aare entlang.
Gibt es Dinge, die Du in Bern gerne verändern möchtest?
Durchaus. Ich würde auf dem Kornhausplatz einen Wald anlegen. Mit Rehen, Pfauen und handzahmen Bären. Die Reitschule würde ich zu einem Ort machen, wo sich tatsächlich alle willkommen fühlen, das Münster würde ich für fünf Jahre mit dem Käfigturm vertauschen, und einmal im Monat würde ich die ganze Stadt komplett verkehrsfrei machen. Einzig Flanieren soll dann erlaubt sein. Die Stadt braucht neue Dynamiken!
Kandidierst du mal als Stadtpräsident?
Demnächst nicht, auch wenn sich das viele wünschen (lacht). Doch ich denke für das Wohle des Landes ist es am besten, ich kandiere gleich als Bundesrat. Ich glaube, meine Chancen stehen bestens, denn auf jemanden wie mich wartet man im Bundeshaus bestimmt (lacht).
Stefanie Keusen