Eine Stadtregierung, die sich ins Schneckenhaus verkriecht. Pflästerlipolitik statt einer klaren Vision. FDP-Stadtrat Nik Eugster lässt an Berns rot-grüner Mehrheit kein gutes Haar. Und hofft auf eine Korrektur im November.
Nik Eugster, welche persönliche Bilanz ziehen Sie nach acht Monaten im Stadtrat?
Ich finde die Arbeit wahnsinnig spannend, weil sich kleinräumig etwas bewirken lässt und das Resultat davon sofort erkennbar ist.
Ihnen gefällt es also im Parlament?
Ja, absolut. Obwohl die FDP eine kleine Fraktion darstellt und wir folglich bei vielen Entscheidungen in der Opposition sind. Man muss Mehrheiten schaffen können, um die eigenen Anliegen durchzubringen. Das liegt mir: Ich gehe gerne auf Menschen zu und probiere, sie von meinen Ideen zu überzeugen.
Mit der linken Ratsseite pflegen Sie ein gutes Verhältnis?
Persönlich sowieso. Man muss diskutieren, danach aber gemeinsam ein Bier trinken können. Logisch fliegen inhaltlich ab und zu die Fetzen, doch das ist ja der eigentliche Sinn eines Parlaments.
Mitte-Politiker Claudio Righetti, der im Herbst auf eine erneute Kandidatur verzichtet, sagte uns in einem Interview: «Es fühlt sich an wie Harry Potter bei den Totessern.»
Ich würde mich zurückhaltender ausdrücken. Insbesondere jetzt im Wahljahr frage ich mich allerdings tatsächlich, was gewisse Themen im Stadtrat zu suchen haben, da sie entweder nicht in den Zuständigkeitsbereich der Stadt fallen oder weil wir dafür kein Geld haben. Dazu sind sie häufig ideologisch getrieben.
Zum Beispiel?
Nehmen wir die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen, welche letzten Donnerstag angeschnitten wurde und im Oktober noch zu Ende geführt wird. Eine Mehrheit des Parlaments findet, die Stadt solle dazu einen Pilotversuch starten. 2016 sprachen sich hingegen fast 77 Prozent der Bevölkerung gegen die Initiative aus, selbst Bern sagte deutlich Nein. Und trotzdem wird das Ganze jetzt wieder aufgerollt. Dass dieses Projekt neun Millionen Franken kostet, ist nochmals eine andere Geschichte.
Ist die Ausgabenpolitik jener Bereich, den Sie an links-grüner Seite am meisten kritisieren?
Ursina Anderegg vom Grünen Bündnis fragte uns Freisinnige vor kurzem im Parlament, was wir eigentlich für ein Problem damit hätten, uns zu verschulden? Ich meine: Was ist das für eine Aussage? (lacht) Irgendjemand muss das alles einmal zurückbezahlen. Wir haben kein Problem mit Investitionen in Schulen und Infrastruktur. Dann muss allerdings an einem anderen Ort abgespeckt werden, um uns das leisten zu können und damit es nicht auf Kosten der nächsten Generation geschieht.
Im Budgetvorschlag 2025 sind rund 115 neue Stellen für den öffentlichen Sektor geplant. Das klingt nach viel.
Einige dieser Stellenschaffungen sind erklärbar: Wegen des gigantischen Debakels um CitySoftnet braucht es dort zusätzliches Personal. Oder aufgrund des Bevölkerungswachstums, zum Beispiel im Bereich Bildung. Bloss ist die Verwaltung in den letzten Jahren deutlich stärker angestiegen als die Zahl der Einwohnenden.
Sie monieren also eine Pflästerlipolitik anstelle eines einheitlichen Gesamtkonzeptes.
Absolut. Ein Beispiel: In der anstehenden Budgetdebatte wird ein Antrag für eine 20-Prozent-Stelle gestellt, um die Schülerkioske zu koordinieren (lacht laut). Entschuldigung, aber das haben wir früher selbst geregelt. Sie sehen: hier etwas, da etwas. Und irgendwann werden daraus 115 Stellen.
Wo klemmt es denn am meisten?
Es fehlt unter anderem eine klare Wirtschaftsstrategie. Haken wir nach, werden wir stets vertröstet, diese komme bald. Bei der zweiten Tramachse geht es ebenfalls kaum voran. Dazu hat Bern eindeutig ein Imageproblem. Das zeigte sich etwa bei den Diskussionen rund um die Austragung des Eurovision Song Contests oder auch bei der gescheiterten Fusion mit Ostermundigen. Links-grün kümmert sich lieber um eine Strassenmöblierung als ums grosse Ganze.
Woher rührt dieses mangelnde Selbstvertrauen?
Es fehlt namentlich eine Stadtregierung, die am Karren zieht und diese Werte verkörpert. Alt-Stadtpräsident Alex Tschäppät betonte bei jeder Gelegenheit, wie cool Bern ist. Ich erinnere mich gerne an seinen Auftritt bei «Giacobbo/Müller» Unterdessen hat man sich leider wieder ins Schneckenhaus verkrochen. Um nochmals den ESC ins Spiel zu bringen: Wieso sollten wir so einen Anlass nicht stemmen können? Wir könnten uns erhobenen Hauptes der Welt präsentieren.
Da Sie Alex Tschäppät erwähnt haben: Ist Alec von Graffenried für Sie ein starker Stapi?
(Überlegt) So sehr ich ihn persönlich schätze, vermisse ich bei ihm einen gewissen Drive. Corinne Mauch versprüht ihn in Zürich zwar auch nicht übermässig. Bern hingegen würde ein solcher Spirit durchaus guttun.
Was würden Sie als Erstes ändern, wenn Sie Stapi wären?
Eine sehr hypothetische Frage (lacht). Ich fühle mich als Stadtrat wohl. Bloss fehlen eben die grossen Würfe. Verkehrstechnisch etwa ist die Innenstadt ein heilloses Chaos. Man muss immer damit rechnen, von einem Auto, Tram oder Velo überfahren zu werden. Die Berner Innenstadt müsste einmal ganzheitlich neu geregelt werden, auch wenn das ein Generationenprojekt würde. Momentan fehlt eine Vision. Das Einzige, was man hört, ist, dass Autos verbannt werden sollen. Das ist für mich aber zu wenig weit gedacht und hat nichts mit einer Vision zu tun.
Das ist jetzt sehr dramatisch formuliert.
Die Verkehrsführung steht symbolisch für Berns Politik: Es fehlt ein klares Konzept, und es wird gegeneinander gearbeitet, anstatt dass probiert wird, alle ins gleiche Boot zu holen.
Fehlt generell ein Gespür für die bürgerliche Minderheit?
Exakt aus diesem Grund verlassen zahlreiche Einzelpersonen oder Firmen die Stadt, weil sie sich zu wenig wohl und wahrgenommen fühlen und den Eindruck haben, hier ihr Geschäft nicht mehr betreiben zu können. Da müsste zwingend hingehört werden.
Wie stehen Sie eigentlich zur Reithalle?
Sie hat dann einen Platz, wenn sie sich an jene Werte und Spielregeln hält, die hier gelten. Diese Entwicklung passiert womöglich gerade: Die Reithalle geht meines Erachtens mehr auf die Stadt zu als auch schon. Andererseits müssten die Betreiber stärker in die Pflicht genommen werden. Eine Palästina-Flagge auf dem Dach? Sorry, das geht nicht!
Benötigt Bern eine Imagekampagne?
Ja, das fängt damit an, wie wir unsere Gäste, die mit dem Car anreisen, im Neufeld willkommen heissen. Container und ein Kiesplatz, schrecklich! Der Bahnhofplatz ist ebenfalls keine Perle. Wobei eine Imagekampagne nicht reicht, dem Ganzen sollte schon ein Selbstverständnis zugrunde liegen.
Sie möchten im November wiedergewählt werden. Der Titel Ihrer Kampagne lautet: «Bern braucht einen Mutausbruch.»
Wir müssen in sämtlichen Belangen vorwärtsmachen, gross denken. In Bezug auf den Verkehr, die Wirtschaft und die Umweltpolitik. Dafür braucht es Mut.
Egal, ob Alec von Graffenried Stapi bleibt oder Marieke Kruit sich dieses Amt schnappt: Heftige politische Umwälzungen bei den Wahlen im Herbst sind nicht zu erwarten.
Stadt- und Gemeinderat sollen die Bevölkerung repräsentieren. Eine Mehrheit tendiert zu Rot-Grün-Mitte, zweifellos. Aber es entspricht aufgrund des Wahlsystems nicht dem aktuellen 4:1-Verhältnis in der Stadtregierung. Diese Sitzverteilung ist zu einseitig und muss korrigiert werden.
Wie lautet Ihre Wahlprognose?
Das Erfolgsmodell der Schweiz ist der Kompromiss. In Bern macht seit über 30 Jahren einfach eine Seite ihr Ding. Ich hoffe, dass möglichst viele Leute erkennen, wie wichtig es wäre, wenn endlich wieder ein stärkerer politischer Diskurs stattfindet, sowohl im Stadt- wie im Gemeinderat.