Frauenrechtlerinnen haben sich den 14. Juni dick in der Agenda angestrichen. Doch der Streiktag ist nicht unumstritten – selbst bei jenen, die sich für feministische Anliegen einsetzen.
In einem Punkt sind sich alle einig: Die feministische Bewegung hat in den letzten Jahrzehnten vieles erreicht. Über allem thront das Jahr 1971, als das Frauenstimmrecht endlich Tatsache wurde. Im Vergleich mit anderen westlichen Ländern ziemlich spät: In Deutschland dürfen Frauen seit 1918 wählen, in Grossbritannien seit 1928 und in Frankreich seit 1944.
In den vergangenen rund 50 Jahren ist einiges passiert: 1988 trat das neue Eherecht in Kraft, 1996 wurde das Gleichstellungsgesetz eingeführt (Diskriminierungsverbot bei der Arbeit), 2002 sagte das Volk Ja zur Fristenregelung (legale Abtreibung), 2004 wurde Gewalt in der Ehe zum Offizialdelikt erklärt, seit 2005 haben Frauen das Anrecht auf Erwerbsersatz bei Mutterschaft. Und natürlich sind Männer und Frauen in der Bundesverfassung gleichgestellt. Alles prima, also?
Schweiz hinkt «stark hinterher»
Mitnichten, sagt SP-Stadtrat Lukas Wegmüller. «Wir müssen weiterkämpfen, für gleiche Chancen auf Beteiligung an der Macht, sei es in Politik, Wirtschaft, Kultur, Journalismus etc. Frauen werden viel zu häufig Opfer von geschlechterspezifischer Gewalt, werden diskriminiert, verdienen weniger, haben zu oft nicht die gleichen Chancen wie Männer und werden an anderen Massstäben gemessen.»
Ähnlich tönt es bei der Gewerkschaft VPOD. Bei Lohngleichheit, Renten, sexualisierter Gewalt und der Verteilung unbezahlter Care-Arbeit hinke die Schweiz «stark hinterher», erklärt Sprecherin Xenia Wassihun. «Frauen machen mit über 60 Prozent die Mehrheit im Tieflohnsegment aus. Sie haben ein erhöhtes Risiko für Altersarmut. Und sie erhalten ein Drittel weniger Rente als Männer.» Auch gebe es, führt Wassihun weiter aus, in der Schweiz keinen vorgeburtlichen Mutterschutz. Sprich: Schwangere müssen, etwa im Gegensatz zu Italien, arbeiten, bis die Wehen einsetzen.
Logischerweise hält Xenia Wassihun den 14. Juni für «gesellschaftspolitisch sehr bedeutend». Schliesslich seien «die landesweiten Frauenstreiks 1991, 2019 und 2023 die grössten politischen Mobilisierungen seit dem Generalstreik nach dem Ersten Weltkrieg» gewesen. Zahlreiche Menschen hätten sich im Anschluss an die Proteste politisiert.
«Werbeplattform für die Unia»
Über die Notwendigkeit des kommenden Freitags gehen die Meinungen allerdings auseinander. So antwortet Simone Richner, Vizepräsidentin der FDP Stadt Bern und selbst eine Vorkämpferin für mehr Frauenrechte, auf die Frage, ob es den 14. Juni überhaupt noch brauche, mit: «Jein, jedenfalls nicht mehr in dieser Form.» Richners Begründung: «Früher war der Frauenstreik eine bedeutende Institution, die für mehr Rechte und echte Solidarität, fern von Ideologie, kämpfte. Heute ist er leider zu einer Werbeplattform für die Gewerkschaft Unia und einige ausgewählte linke Politikerinnen verkommen, wodurch die ursprüngliche Botschaft verblasst.»
Das sei besonders bedauerlich, hält Richner weiter fest, «da die Rechte der Frauen weltweit massiv unter Druck stehen». Als Beispiel nennt sie den Iran oder Afghanistan. «Wir müssen uns wieder auf die wesentlichsten Anliegen konzentrieren. Wenn das gelingt, stehe auch ich wieder an vorderster Front.»
Ganz ähnlich argumentiert Sarah Schläppi, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin der Anwaltskanzlei Bracher & Partner, bekannt unter anderem durch ihre Medienauftritte im BärnerBär («Sarah hat Recht») oder bei Energy Bern («Darf man das?»). Für sie hat der 14. Juni vor allem eine «historische Bedeutung». Heute hingegen sei der Frauenstreik «nicht mehr derselbe». Schläppi erachtet es als wichtiger, «dass wir Frauen Vorbild-Rollen einnehmen. Nur so haben Mädchen weibliche Vorbilder und irgendeinmal ist es ganz normal, dass in einer Geschäftsleitung oder einem Verwaltungsrat gleich viele Männer und Frauen Einsitz haben.» Vorurteile oder gar Diskriminierung habe sie generell in ihrem Beruf noch nie erlebt. Klar habe es immer wieder Situationen gegeben, in welchen sie als Frau «nicht dieselbe Behandlung» erfahren habe wie ihre männlichen Kollegen. Dabei handelt es sich ihrer Ansicht nach aber oft um «ein falsches Rollenverständnis oder um ein Vorurteil», welches «in einem Gespräch aus dem Weg geräumt» werden könne.
Der Streit ums Lohngefälle
Uneinigkeit herrscht auch über den sogenannten Gender-Pay-Gap, also das geschlechtsspezifische Lohngefälle. Dass er, zum Nachteil der Frauen, existiert, ist unbestritten. Während Xenia Wassihun vom VPOD indes auf die vom Bundesamt für Statistik BfS offiziell ausgewiesenen 18 Prozent hinweist, merkt FDP-Stadtvize Simone Richner an, dass rund 52 Prozent der Einkommensunterschiede durch «Berufswahl, Teilzeitarbeit und Karriereverlauf» erklärbar seien. Selbstverständlich sind rund 8,5 Prozent weniger Verdienst noch immer zu viel – bloss klingt es etwas weniger dramatisch.
Schläppi wiederum erzählt von einem Vergütungssystem in ihrem Betrieb, womit Lohndiskriminierungen ausgeschlossen seien. Ein gutes Modell, zweifellos – eines allerdings, das in der Privatwirtschaft nach wie vor eine Ausnahme darstellt.
Aber was ist nun zu tun, damit sich mehr Unternehmen dem System von Sarah Schläppi anschliessen? Die Antworten der Stimmen, die der BärnerBär eingefangen hat, fallen, wenig überraschend, unterschiedlich aus. Der politischen Linken ist namentlich die ungleiche Verteilung unbezahlter Care-Arbeit, also die Betreuung und Pflege für Familie und Angehörige, ein Dorn im Auge. SP-Politiker Lukas Wegmüller führt zudem eine Elternzeit von zwei Jahren, «flexibel aufteilbar» ins Feld. «Und es müsste möglich sein, jede Stelle in Teilzeit im Jobsharing oder in einem Co-Lead wahrzunehmen. Die Kosten für familienexterne Kinderbetreuung müssen noch stärker respektive vollständig staatlich getragen werden. Und Infrastrukturen wie Gesamttagesschulen, welche eine hochprozentige Arbeits-
tätigkeit der Eltern ermöglichen, müssten Standard werden.» Dann wäre die Stadt Bern laut Wegmüller einen wichtigen Schritt weiter bei einer «effektiven Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit der Erhöhung der Chancengleichheit».
Mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung?
Beim VPOD heisst es, für bessere Frauenlöhne und -renten benötige es «mehr Zeit und Geld». Konkret: «Das Lohnniveau in Frauenbranchen muss gezielt angehoben werden und die Arbeitszeit bei vollem Lohn verkürzt werden.» Zudem fordert Xenia Wassihun eine «gezielte Lohnerhöhung in Branchen mit tiefen und mittleren Löhnen und hohem Frauenanteil und flächendeckende Mindestlöhne von 4500 Franken und von 5000 Franken bei abgeschlossener Berufslehre».
Einen anderen Weg schlägt die freisinnige Simone Richner vor. «Die Linken setzen oft auf staatliche Regulierungen und Eingriffe, ich hingegen glaube an die Kraft der Eigenverantwortung und die Förderung individueller Fähigkeiten.» Sie spricht von «Rahmenbedingungen, die es Frauen ermöglichen, ihre Potenziale voll zu entfalten, anstatt sie in vorgefertigte Modelle zu zwängen». Richner sagt zudem: «Leider erlebe ich es gerade in der Politik allgemein viel zu oft, dass Frauen zwar gerne über Unterstützung sprechen, aber wenn es nicht dem eigenen Weiterkommen dient, bleibt dieser Support oft aus.» Es gehe darum, gemeinsam stark zu sein und «echte Solidarität» zu leben.