Tagelang berichteten Berner Medien über eine Polizeiaktion bei der Heiliggeistkirche. Dabei seien aber gezielt wichtige Fakten verheimlicht worden, heisst es nun in einem parlamentarischen Vorstoss, der den Fall untersuchen will.
Es ist der 11. Juni 2021. Ein früher Freitagmorgen in Bern. Bei der Heiliggeistkirche hält die Polizei einen Mann aus Nordafrika an. Er wirkt sichtlich angeschlagen, torkelt, blutet an Armen und Händen, trägt keinen Ausweis auf sich. Zudem erwähnt er von sich aus den Begriff «Drogen». Die Beamten wollen ihn zur Kontrolle auf den Posten mitnehmen, legen ihm zur Sicherheit Handschellen an. Doch der kräftige Marokkaner widersetzt sich plötzlich, ist kaum mehr zu beruhigen. Es kommt zum Gerangel, schliesslich liegt der Mann am Boden. Dann passiert das, was kurze Zeit später als «Zweiter Fall Floyd» in den Schweizer Medien Schlagzeilen macht: Ein Foto, von der lokalen Presse veröffentlicht, soll zeigen, wie der Polizist sein Knie gegen den Hals des damals 28-Jährigen drückt. Angeblich längere Zeit, «nicht nur während einiger weniger Sekunden», wie zu lesen ist.
Zur Erinnerung: Der Afroamerikaner George Floyd wurde am 25. Mai 2020 in der US-Metropole Minneapolis brutal ermordet. Polizist Derek Chauvin presste dem 46-Jährigen, der wegen eines möglicherweise gefälschten 20-Dollar-Scheins ins Visier der Beamten geriet, sein Knie über neun Minuten lang auf den Hals. «I can’t breathe», «Ich kann nicht atmen», schrie Floyd über 20 Mal. Bis er schliesslich tatsächlich keine Luft mehr bekam und qualvoll erstickte. Das unverhältnismässige Vorgehen der Polizisten löste die sogenannten «Black Lives Matter»-Demonstrationen aus, die sich gegen Polizeigewalt und Rassismus richteten.
Eine ähnlich gelagerte Tragödie also soll sich vor der Berner Heiliggeistkirche zugetragen haben? Zu diesem Schluss jedenfalls könnte gelangen, wer die Online- und Zeitungsartikel von damals liest. Gleich mehrere Male berichteten Berner Medien über den Vorfall, zig weitere nahmen das Thema schweizweit auf. Alle zogen sie Parallelen zu den USA. In den Kommentarfunktionen entluden sich teilweise üble Hasstiraden. Jemand schrieb: «Wie weit ist Bern von ‹I can’t breathe?› entfernt?» Oder: «Wie damals bei George Floyd …» Nicht nur einmal wurde der betreffende Berner Polizist gar als «Mörder» gebrandmarkt.
Medial widerfahrenes Unrecht
Am nächsten Dienstag nun wird in diesem Zusammenhang im Kantonsparlament unter dem Titel «Machtmissbrauch durch Medien-Konzern: Kantonsangestellte schützen» ein gemeinsamer Vorstoss von Grossrätinnen und Grossräten der Mitte, FDP, SVP und EDU behandelt. Der Inhalt? «In einer beispiellosen, von ‹Der Bund› und ‹Berner Zeitung› lancierten Medienkampagne wurde ein Angehöriger der Kantonspolizei Bern vorverurteilt und zum Mörder abgestempelt, nachweislich wider besseres Wissen der Redaktion.» Der Regierungsrat wird aufgefordert, alles zu unternehmen, «um gegen Kantonsangestellte und ihre Familien medial widerfahrenes Unrecht zu klären und wiedergutzumachen». Eine Schadensersatzforderung steht im Raum.
Aber was bemängeln die Initianten des Vorstosses am medialen Vorgehen genau? Erstens: Die Redaktion habe, wie oben erwähnt, «wider besseres Wissen» berichtet. Konkret: Obwohl der emeritierte Professor für Rechtsmedizin Ulrich Zollinger die zuständigen Journalistinnen und Journalisten bereits am Tag des ersten Zeitungsartikels darauf aufmerksam gemacht hatte, dass aufgrund der Zeitverhältnisse wohl keine Erstickungsgefahr gegeben war, sei dieser entscheidende Hinweis nie publiziert worden.
Stattdessen sei weiterhin behauptet worden, der Polizist habe sein Knie gefährlich gegen den Hals des Nordafrikaners gedrückt. Aufgrund der geschossenen Bilder hätte den Journalisten jedoch, so der Experte, klar sein müssen, dass das nicht habe stimmen können, da auf den Fotos, die den Vorfall dokumentieren, ja ersichtlich gewesen sei, wie lange der Einsatz tatsächlich gedauert habe. Schliesslich sei jedes Foto mit einem auf die Sekunde genauen Zeitstempel versehen. Sprich: Die Einwirkung des Polizisten war viel zu kurz, um für die fixierte Person gefährlich zu sein. Das habe die Redaktion bereits früh gewusst, trotzdem sei dieses Wissen nicht an die Leserschaft weitervermittelt worden, so die Kritik.
Moniert wird zudem auch die potenziell mangelhafte Unkenntlichmachung des Polizisten. Tatsächlich war auf jenen Aufnahmen, die damals in den genannten Zeitungen veröffentlicht wurden, das Gesicht des Polizisten – er ist verheiratet und hat zwei Kinder – trotz Verpixelung einigermassen gut identifizierbar. Jedenfalls derartig, so wird argumentiert, dass ihn Menschen aus seinem näheren Umfeld problemlos wiedererkannten.
Nicht publizierte Bilder
Der Vorstoss verlangt via Regierung von den betreffenden Medien ausserdem, «klärendes Bildmaterial» freizugeben. Rechtsmedizin-Professor Zollinger macht in seinem Mail an die Redaktion geltend, dass seines Erachtens gar nicht das Knie auf dem Hals gelegen habe, sondern der Unterschenkel. Diese Fotos aus anderer Perspektive seien zwar in der Redaktion vorhanden, allerdings bis dato nie publiziert worden.
Und: Den Vergleich zum Fall Floyd habe man zwar später relativiert. Jedoch erst eine Woche nach dem ersten Medienbericht – die Meinungen seien zu jenem Zeitpunkt bereits gemacht, die Medienwelle entsprechend vorbei gewesen. Ein solcher Artikel, heisst es in einem Schreiben des Kantons Bern an die verantwortlichen Journalisten, sei «unbeholfen» gewesen und habe «nichts mehr bewirkt».
Nun, wie sieht die Sachlage Stand heute aus? Zum einen wurde ein Polizeibeamter, der den Verdächtigen am Freitagmorgen des 11. Juni 2021 unsanft in den Kastenwagen spedierte, wegen unverhältnismässiger Gewaltanwendung verurteilt. Dieses Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig, sondern beim Obergericht hängig. Der Polizist, dessen Einsatz mit dem Fall Floyd verglichen wurde, der medial aufkochte und an welchem sich die Wut entbrannte, wurde hingegen freigesprochen. Dieser Freispruch ist rechtskräftig.
Der angehaltene Nordafrikaner wurde ausserdem nicht, wie von vielen Leuten angenommen, lange auf den Boden gedrückt, sondern, wie es in den Gerichtsakten heisst, exakt 1 Minute und 13 Sekunden. Und somit deutlich unter den von Gerichtsmediziner Zollinger genannten «drei bis vier Minuten», die nötig wären, um die Gefahr eines Erstickungstodes herbeizuführen.
Medien sollen genau hinschauent
Die Redaktionen von «Der Bund» und «BZ» ihrerseits weisen die Vorwürfe der Urheber der grossrätlichen Motion, wonach die Berichterstattung «voreingenommen und unvollständig» gewesen sei, entschieden und kategorisch zurück. Es sei Aufgabe der Medien, «dort genau hinzuschauen, wo sich Macht konzentriert».
Der Gesamtregierungsrat empfiehlt den Vorstoss der vier bürgerlichen Parteien zur Annahme. Die Machtkonzentration sehen die Motionäre, so sagen sie, nicht bei der Polizei, sondern eher «in einem grossen Medienkonzern – zu Lasten eines einzelnen Kantonsangestellten».