Dass altes Handwerk nicht ausstirbt, beweist der 33-
jährige Buchbinder Samuel Tscherrig in seiner Werkstatt in Bern. Sein Handwerk
hat auch den sprichwörtlich «goldenen Boden», denn es fehlt nicht an Arbeit und die Buchbinde- und Kartonagekurse sind gut besucht.
Betritt man den kleinen Laden von Samuel Tscherrig in den niedrigen Lauben an der Brunngasse 46, ertönt die Türklingel wie im «Tante Emma-Laden» und der Blick fällt sofort auf eine alte Maschine. Der Buchbinder bemerkt unsere fragenden Gesichter und klärt auf: «Das ist eine etwa 140-jährige Stapelschneidemaschine französischer Herkunft. Fertig gebundene Produkte werden am Schluss an drei Seiten aufs Endformat beschnitten. Sie eignet sich für Kleinauflagen von bis zu etwa 50 Exemplaren.» Samuel Tscherrig konnte dieses funktionstüchtige Bijou von einem Buchdrucker aus der Romandie erwerben. «Ein solches Modell habe ich bisher noch in keiner Buchbinderei gesichtet», sagt er stolz und nennt die Präzisionsmaschine, welche durch millimetergenaues Arbeiten besticht, liebevoll «meine Mitarbeiterin».
Begeisterter Bücherwurm
Samuel Tscherrig war schon als Kind eine regelrechte Leseratte und verbarg sich hinter Büchern. «Es musste ein handwerklicher Beruf im Umfeld des geschriebenen Wortes sein», erzählt er rückblickend. «Ich will am Abend sehen können, was ich tagsüber gearbeitet habe.» Aber das Lesen von Büchern bedeutet nicht automatisch auch handwerkliches Geschick. Er habe diesbezüglich kein besonderes Talent, sagt Tscherrig bescheiden. Dennoch: Zwei «linke Hände» hat er nicht und schon als Jugendlicher arbeitete er hobbymässig viel mit dem Rohstoff Holz. Eine wichtige Anforderung, um im Beruf Erfolg zu haben, war also schon vorhanden. Zwei Tage schnupperte er in der (damaligen) Buchbinderei Schumacher in Schmitten – und erhielt die Lehrstelle für die vierjährige Grundbildung zum «Printmedienverarbeiter EFZ», wie die Berufsbezeichnung damals noch lautete. Die Lehre in diesem industriellen Betrieb mit verhältnismässig vielen repetitiven Tätigkeiten bezeichnet er heute als «perfekte Basis, um das Handwerk zu erlernen».
Kunden halten sich manchmal stundenlang in meinem Laden auf.
Samuel Tscherrig
Von den Familienrezepten bis zum Freundschaftsbuch
Eine Preisliste sucht man bei Samuel Tscherrig vergebens. Das sei wegen der vielseitigen und unterschiedlichen Aufträge gar nicht möglich, begründet er das Fehlen einer solchen Liste. «Ich verarbeite jährlich etwa 300 Bestellungen und hatte noch nie zweimal den gleichen Auftrag!», lacht er. Das Material sei zwar oft ähnlich, aber es gebe beispielsweise 14 verschiedene Broschürenkonstruktionen, sogenannte Softcover, die man den individuellen Kundenbedürfnissen anpassen könne. «Ich bespreche jeden Auftrag mit dem Kunden und schlage zwei bis drei Lösungen vor», präzisiert der Buchbinde-Fachmann.
Er veranschaulicht die Vielschichtigkeit seiner Arbeit an drei Beispielen: Aus lose zusammengetragenen Familien-Kochrezepten entsteht ein stattliches Album mit Halbledereinband, ein sehr altes Fotoalbum muss sorgfältig restauriert werden und ein Unternehmen widmet einem Mitarbeiter, der in Pension geht, ein edles Freundschaftsbuch.
Als seine bisher «kniffligste» Arbeit bezeichnet Samuel Tscherrig den Auftrag eines Finanzinstituts, welches sein Logo mehrfarbig mit sehr speziellen Farben prägen lassen wollte. Alle angefragten Farbfolienhersteller gaben dem Berufsmann einen negativen Bescheid. Aber ganz im Sinne von «Geht nicht, gibts nicht» liess Samuel Tscherrig nicht locker, «pröbelte» lange und konnte schliesslich den Kundenwunsch zu dessen voller Zufriedenheit erfüllen. Seine handgefertigten, massgeschneiderten Arbeiten sind denn auch das Alleinstellungsmerkmal von Samuel Tscherrig; jedes Produkt ist ein Unikat. «Nicht wenige Kunden halten sich manchmal stundenlang in meinem Laden auf, um die vielen Materialien zu begutachten», ergänzt Samuel Tscherrig.
Keine Fehler erlaubt
Es sind vor allem Privatpersonen mit Einzelaufträgen oder Kleinauflagen, die Samuel Tscherrig zu seinen Kunden zählen darf. Familienchroniken, Glückwunschkarten, Hochzeitseinladungen usw. gehören zu den häufigsten Aufträgen. Aber auch einige Bibliotheken und Archive wissen die Professionalität von Samuel Tscherrig zu schätzen.
Als «Leuchtturmprojekt» bezeichnet er das grosse Gästebuch, mit dessen Produktion ihn die eidgenössischen Parlamentsdienste beauftragten. «In dieses Buch tragen sich ausländische Parlamentarier:innen ein, welche unseren beiden Kammern einen Besuch abstatten. Das Buch liegt dann jeweils zur Einsichtnahme im Bundeshaus auf», erzählt Samuel Tscherrig.
Wie verhält es sich bei der Restaurierung sehr wertvoller Aufträge? Samuel Tscherrig überlegt nicht lange und erinnert sich an eine Briefmarkensammlung mit einem Wert in sechsstelliger Höhe, die seinen Adrenalinspiegel steigen liess. «Dem hohen Wert entsprechend durfte ich diese Sammlung neu einbinden. Ich prüfte vorher die Versicherungsleistungen bei einem allfälligen Feuer- oder Wasserschaden. Auch stellte ich die volle Kaffeetasse weit weg vom Arbeitsplatz. Die Zeitspanne, in der ich mich dieser Arbeit widmete, musste möglichst kurz sein, ich stellte alle anderen Projekte zurück. Es durfte einfach nichts passieren!», blickt Samuel Tscherrig heute schmunzelnd zurück.
Gibt es eine besondere Wunscharbeit, die er dereinst realisieren möchte? Dazu Samuel Tscherrig: «Es gibt schier unzählige Bindearten aus verschiedensten Kulturkreisen, die ich mir in alten Büchern angeschaut habe und die sich in der 1500 Jahre alten Geschichte der Buchbinderei entwickelt haben. Einige ‹Rosinen› dieser Handwerkskunst einmal umzusetzen wäre halt schon schön», schwärmt er. Nun, der 33-Jährige hat noch alle Zeit …
Fotos: Daniel Zaugg