Sara Matic verwendet im Gespräch mehrmals das Wort «Leidenschaft». Die gelernte Bekleidungsgestalterin – im Volksmund Schneiderin – brennt nach wie vor für ihren Beruf. Sie arbeitet als Modeberaterin bei eniline GmbH, dem Ausstattungsgeschäft für Herren-Massanzüge in
der Berner Altstadt.
Zum Zeitpunkt unseres Besuches, an einem Dienstag im März, ist die 31-jährige Sara Matic mit administrativen Arbeiten beschäftigt: Sie verarbeitet die Bestellungen, die aus den zahlreichen Beratungsgesprächen resultieren. Für sie kein «Muss», denn mit einer kaufmännischen Zusatzausbildung sind ihr Büroarbeiten kein Greuel. Vor allem die Samstage seien jeweils sehr beratungsintensiv, erzählt sie. Sie empfiehlt, sich online oder telefonisch einen Beratungstermin zu reservieren, denn eine solche Beratung könne schon mal gegen zwei Stunden dauern. Auch heute erwartet sie noch einen Hochzeitskunden und die Anprobe eines Anzuges. Etwa 80 Prozent des Umsatzes entfielen auf Hochzeitsanzüge, führt Sara Matic weiter aus. «Dies ist der Moment, wo sich jeder Herr vertieft um seinen Anzug kümmert», lacht sie.
Lange unschlüssig
Zum Beruf der Bekleidungsgestalterin fand Sara Matic nicht auf Anhieb. Sie tat sich schwer mit der Berufswahl. Einigermassen klar war lediglich, dass es etwas «Kreatives» sein sollte. Bereits in der fünften und sechsten Klasse fertigte sie Kleiderskizzen an und glänzte im Handarbeiten. So schnupperte sie in mehreren Berufen, unter anderem Polygrafin, Verkäuferin – und Schneiderin. Schliesslich bestand sie das Aufnahmeverfahren in der «BFF Kompetenz Bildung Bern» und absolvierte in deren Lehrwerkstätten die dreijährige Lehre mit Schwerpunkt Damenbekleidung. Nun berät sie bei eniline Herren, wie geht das zusammen? Dazu Sara Matic: «Die meisten Lernenden wählten damals den Schwerpunkt Damenbekleidung, so auch ich. Aber meine Lehrmeisterin bei BFF prophezeite mir meine Neigung und Eignung zur Herrenschneiderin, denn festere Stoffe lagen und liegen mir besser in den Händen.» Sie schenkte dieser Voraussage jedoch keine grössere Beachtung.
Festere Stoffe liegen mir besser in den Händen, deshalb entschied ich mich für Herrenschneiderin.
Sara Matic
Nach der Lehrabschlussprüfung (Qualifikationsverfahren) war sie u. a. bei einem Hochzeitsausstatter als Beraterin und Schneiderin tätig und wurde erstmals auch mit Hochzeitsanzügen konfrontiert, ihr Tätigkeitsgebiet verlagerte sich. «Ich erinnerte mich wieder an den Ratschlag meiner Lehrmeisterin, wahrscheinlich war das ein erster Wink für meine künftige berufliche Laufbahn.» Männer zeigten sich einer Beratung gegenüber offener, so die Erfahrungen der Schneiderin. Während ihrer BFF-Grundbildung kam Sara auch in Kontakt mit Herrenbekleidung: «Ein Herrenschneider zeigte uns die Grundlagen des Schnitts auf und wir durften auch mal einen Blazer nähen.» Danach verschlang die junge Bekleidungsgestalterin Fachliteratur und entsprechende Artikel rund ums Thema Anzüge. Bei eniline bekleidet sie die Funktion der Stoffverantwortlichen. «Wir haben rund 30 000 Stoffe, und ich kenne sie fast alle auswendig», sagt sie selbstbewusst.
Beruf mit Leidenschaft
«Viele machen Kleider. Wir machen Leute». Diesen Leitsatz ihres Arbeitgebers eniline GmbH hat sich auch Sara Matic zu eigen gemacht. «Ich arbeite täglich mit Menschen zusammen, entwickle mit ihnen Outfits, die zu ihnen passen, die ihren Charakter und ihre Individualität verstärken, darf meine Kreativität ausleben», schwärmt sie. «Ich gebe dem Kunden ein sogenanntes Probierteil zum Anziehen und sehe dann, was ich auf Mass anders bestellen muss und mittels CAD kann ich den Schnitt verändern.» Hier wird das Knowhow der Fachfrau gefragt – «und geschätzt», wie sie schmunzelnd hinzufügt.
Obwohl Sara Matic nach ihrer Lehrzeit zweifelte, ob sie dem Beruf treu bleiben sollte und zwischendurch auch andere Tätigkeiten ausübte – sie kam zu den «Wurzeln» zurück. «Die Saläre der Bekleidungsgestalterin hinken im Vergleich mit anderen Berufen hinten nach», bedauert sie. Trotzdem: Wenn die Leidenschaft für diesen sehr ausbaufähigen und kreativen Beruf vorhanden sei, würde sie jedem Interessenten/jeder Interessentin dazu raten. Tatsächlich mangelt es nach der Grundbildung nicht an zahlreichen attraktiven Weiterbildungsmöglichkeiten (siehe auch separate Box!).
Revival der Krawatte
Nach aktuellen Trends in der Herrenmode befragt, prognostiziert die Fachfrau die modische Rückkehr der 1990er- und der Nullerjahre. «Oversize, also bewusst zu grosse Kleider, worin man sich wohlfühlt, kommen zurück», so ihre Beobachtung. Die Männer seien bezüglich Farben mutiger geworden, zurzeit sei für Anzüge die Farbe Grün im Trend und zwar in allen Schattierungen. Aber auch die Mode der 1920er-Jahre erlebe mindestens teilweise wieder einen Aufschwung. «Ich denke dabei an die Netflix-Serie ‹Peaky Blinders›. Die Männer interessieren sich plötzlich wieder für den sogenannten Piccadilly-Kragen mit der Nadel, welche den Kragen zusätzlich verschliesst.»
Erstaunlicherweise glaubt Sara Matic wieder an die Rückkehr der Krawatte. «Ich war kürzlich in Paris und sah junge Männer in Traineranzügen und mit Krawatte!» Obwohl sie einräumt, dass sich Kleidervorschriften, wie sie früher beispielsweise in Banken herrschten, gelockert hätten. «Heute muss man(n) keine Krawatte mehr tragen, er darf sie sich freiwillig umbinden, was sicher für dieses Accessoire förderlich ist», ist sie überzeugt.
Gibt es Modesünden, die gar nicht gehen? Sara Matic lacht: «Heute ist vieles möglich, aber ich bin allergisch gegen zu kurze oder zu lange Hosen- oder Ärmellängen!» Sie bezeichnet sich selber als ehrliche Modeberaterin. «Ich sage dem Kunden, wenn ein bestimmter Schnitt oder eine Farbe nicht zu ihm passt. Kunden, die mich kennen, sehen es an meinem Gesichtsausdruck. In den allermeisten Fällen finden wir gemeinsam die passende Lösung.» Am liebsten setzt sie ausgefallene Ideen um, «das ist die echte Herausforderung», begeistert sie sich.
Sara Matic musste ihren persönlichen Kleidungsstil erst finden, ihr erster Massanzug fühlte sich wie eine Arbeitsuniform an, wie sie rückblickend festhält. «Mittlerweile habe ich mich mit den Anzügen angefreundet, sie geben mir Sicherheit und Wohlbefinden.» Selbstredend, dass sie ihre Anzüge selbst entwirft… In ihrer Freizeit trägt sie aber auch mal einen Rock oder Jeans.
Foto: Daniel Zaugg
