So lautet der Titel des Buches von Julia Kalenberg aus Zimmerwald. Basierend auf eigenen Erlebnissen plädiert sie für mehr Gelassenheit im Umgang mit dem Sterben. Der Tod und das Sterben müssten enttabuisiert werden.
Was halten Sie von der oft gehörten Aussage «Vor dem Tod fürchte ich mich nicht, aber vor dem Sterben»?
Das Sterben ist sehr unterschiedlich, individuell und mit vielen Ängsten besetzt. Angst vor Symptomen, womit man sich vorher nicht auseinandersetzt. Diese Befürchtungen kann ich sehr gut nachvollziehen. Vom Tod hingegen haben viele Menschen eine klare Vorstellung, so wie beispielsweise von einem Leben danach oder zu nichts mehr.
Vielfach ist das Sterben im hohen Alter mit Krankheiten verbunden, wovor sich die Menschen fürchten. Man zieht sich zurück, lässt sich nicht mehr sehen …
Ja, deshalb hat mich das kürzliche Erscheinen des sichtlich greisen, gebrechlichen und kaum mehr erkennbaren ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter an der Beerdigung seiner Frau sehr berührt. Es hat mich beeindruckt, dass er sich so verletzlich in der Öffentlichkeit zeigte. Das sind wir in unserer Gesellschaft leider nicht mehr gewöhnt. Ich fände es schön, uns auch in unserer Verletzlichkeit zu zeigen; sie ist ein Teil unseres Lebens.
Worauf führen Sie die Tabuisierung des Sterbens zurück?
Früher wurden wir durchschnittlich 50 Jahre alt, das Sterben fand daheim sichtbar statt, man wurde im eigenen Haushalt aufgebahrt. Heute findet das Sterben diskret, vor Blicken abgeschirmt, meist in einem Heim oder Spital statt. Daher haben die meisten Leute in unserer westlichen Gesellschaft keine Berührung mehr mit dem Sterbevorgang.
Was hat Sie dazu motiviert, ein Buch über den Umgang mit dem Sterben zu schreiben?
Mein Vater. Als er mit Lungenkrebs zu Beginn der Corona-Pandemie im Spital lag, durfte ich ihn mit einer Sondergenehmigung besuchen. Ziemlich bald im Gespräch sagte er mir: «Weisst Du, eigentlich kann ich jetzt gehen.» Ich hielt inne, wir weinten gemeinsam und nach einer halben Stunde war ich fähig, ihm zu sagen, dass ich ihn auf seinem letzten Weg begleiten möchte. Nützliche Vorerfahrungen bewogen mich, hin- statt wegzuschauen und mich diesem Thema zu stellen. Diese Begleitung brachte mir sehr viel, denn ein grosser Teil meiner Trauerarbeit geschah schon während des Abschiednehmens.
Hat Sie das Verfassen des Buches auch befreit?
Es hat mich begleitet. Ich habe schon während der Sterbebegleitung begonnen, mehr Zeit für mein Tagebuch zu widmen. Es war eine Möglichkeit, um einigermassen mit den Ups und Downs umzugehen und mich zu stabilisieren.
Sie wollten mit Ihrem Buch keinen Ratgeber verfassen. Was ist es denn?
Es ist eine Einladung, den eigenen Weg zu finden und zu gehen. Ich möchte die Leser:innen mit der grossen Auswahl unterschiedlicher Geschichten «gluschtig» machen, hinzuschauen und im besten Fall Mut zu entwickeln, nachzudenken und den eigenen Weg allein oder im Gespräch mit dem Umfeld zu beschreiten. Ich wollte auf jeden Fall den erhobenen Zeigfinger vermeiden im Sinne von «so gehts und nicht anders»!
Der Buchtitel ist aber provokativ!
Ja, der Titel ist entstanden, als mein Vater sehr ruhig und entschlossen auf sein Ende zuging. Ich dachte damals an meine Kindheit: Er zeigte uns, wie man einen Stecken zurechtschneidet, um einen Cervelat bräteln zu können, wie man Hefeteig knetet, damit er schön aufgeht. Und jetzt zeigst Du uns, wie Sterben geht!
Sie suchten nach Ihrer eigenen Krebserkrankung eine Psychotherapeutin auf, die Ihnen riet, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Wie haben Sie sich danach damit befasst?
Diese Aufforderung war wirklich krass. Einerseits war ich erschüttert und schockiert, ich fühlte mich in dieser Zeit so «beschissen», aber andererseits regte sich in mir der Widerstand, denn niemand hatte mir zu befehlen, wann ich mich mit dem Sterben auseinandersetzen muss. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht bereit, übers Sterben nachzudenken. Aufgrund von Gesprächen mit anderen Menschen, die mir über das Sterben erzählten und die ich beim Sterben begleiten durfte, erhielt ich Einblick ins Sterben und verfolgte diese Beispiele mit offenen Augen. Ich fragte mich, was ich davon eines Tages für mich selbst anwenden könnte.
Wie intensiv und ab welchem Alter sollte man sich mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen?
In jedem Alter! Wir sollten uns bewusst sein, dass der Tod eines Tages kommen wird. Wenn wir uns frühzeitig und immer wieder mit unserer Endlichkeit auseinandersetzen, dürfen wir unsere Lebensform immer wieder hinterfragen: Lebe ich mein Leben so wie ich es mir vorgestellt habe?
Mit Jahrgang 1963 ist auch bei Ihnen die Zukunft kürzer als die Vergangenheit. Wie oft befassen Sie sich mit dem eigenen Ende?
Das Symbol steht direkt vor Ihnen (zeigt auf eine grosse Sanduhr auf dem Tisch). Diese Uhr steht sonst immer auf meinem Schreibtisch. Mein Mann lacht immer, wenn er sieht, wie ich sie durchs Haus trage. Die Sanduhr hat eine zweifache Wirkung: Ich sehe, dass die Zeit verrinnt und erinnert mich liebevoll an die Endlichkeit. Sie zeigt exakt eine halbe Stunde an und hilft mir, konzentriert bei der Sache zu bleiben.
Ihr Buch ist keine leichte Kost, die man verschlingt. Wie liest es sich am besten?
Die Einleitung über die Entstehung des Buches sollte sinnvollerweise zu Beginn gelesen werden. Dann empfehle ich, das ausführliche Inhaltsverzeichnis aufzuschlagen und sich von den Titeln der einzelnen Geschichten inspirieren zu lassen. Die Titel sind sehr aussagekräftig und erleichtern den wahlweisen Einstieg ins Buch. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: «Was tun, wenn sich die Nachbarn abwenden?»
Was hat Ihr Buch bei den Leserinnen und Lesern ausgelöst?
Die vielen Rückmeldungen berühren mich enorm. Eine Trainerin für Führungskräfte aus Berlin schrieb mir beispielsweise, dass sie am Sterbebett ihres Vaters sitze und seine Hand streichle. In der andern Hand halte sie mein Buch und lese es bereits zum zweiten Mal, es helfe ihr sehr. Da sage ich mir: Wow, die Arbeit hat sich gelohnt!