Sie wird auf den Bühnen dieser Welt stehen – und das mit Eidgenössischem Fachausweis. Naomi Graber gehört zu den ersten, die eine neuartige staatliche Tanzausbildung durchlaufen. Die Bernerin gibt alles, um ihren Traum zu verwirklichen.
«Ich glaube, hier in diesem Raum hat es angefangen», sagt Naomi Graber und schaut sich langsam in dem ausgeleuchteten Trainingssaal der Berner New Dance Academy NDA um. Seit sie hier als fünfjähriges Jungtalent ihre ersten Schritte aufs Parkett zauberte, hat sie nicht mehr aufgehört zu tanzen. Ob Hiphop oder Jazzdance, mit den Formationen der NDA holte sie mehrere Schweizermeister Titel und nahm auch an Weltmeisterschaften teil. Als Teenagerin verbrachte sie 14 Stunden die Woche im Tanzunterricht. «Hier habe ich viele Freundschaften geschlossen, die bis heute halten.»
Ein Leben für den Tanz
Schule? Damals eher Nebensache. Grabers Leidenschaft fürs Tanzen war einfach immer stärker. Sie deutet nach nebenan: «Da ist ein kleiner Raum, in dem ich mit meinen Freundinnen gelernt habe, wenn wir mal zwei Stunden Pause hatten. Ich wusste allerdings schon, dass ich Profitänzerin werden will.» Nur, wie sollte der Weg dorthin aussehen? In der neunten Klasse fand sich Graber in einem Dilemma. Heute lacht sie: «Ich war damals spät dran. Ich dachte, ich muss jetzt eben drei Jahre eine Ausbildung in etwas machen, das mir nur so mässig gefällt.» Beinahe hätte sie einen Lehrvertrag als Fachfrau Gesundheit unterschrieben, doch dann: Ein Wink des Schicksals! «Ich entdeckte in einer Insta Story, dass es eine neue Ausbildung zur Bühnentänzerin in der Fachrichtung Musical/Show gibt. Ich meldete mich sofort für die Aufnahmeprüfung an.» Graber gab in drei Tanzstunden alles, führte ein Gesangsstück und eine Schauspielszene vor und bekam einen der begehrten 17 Plätze im August 2021.
Die aufgestellte Tänzerin erntete viele Komplimente dafür. Alle freuten sich, dass sie ihre Passion zum Beruf machen kann. Graber sieht das differenzierter, ging den Schritt bewusst: «Vorher war Tanzen mein Hobby. Ich kam in den Saal ohne Druck und Competition. Jetzt muss ich kämpfen und will besser werden.» Sie spürt den Druck auf sich.
Die Schattenseiten des Showbusiness
Ehrlich erzählt sie auch von den Schattenseiten des Showbusiness. In jedem Training muss sie das Risiko eingehen, sich zu verletzen und vielleicht nicht mehr tanzen zu können. «Ich muss immer 100 Prozent geben und zielstrebig bleiben», sagt die junge Tänzerin. Dazu kommt der Vergleich mit anderen. «Anders als in den meisten Jobs wirst du direkt als Person kritisiert. Nicht das Werk wird beurteilt, sondern die Person, die tänzerisch etwas falsch gemacht hat. Das ist schwierig», gibt sie zu. Als Heranwachsende traf sie auch jeder vermeintliche körperliche Makel. Als sie als 15-jährige mit der Ausbildung anfing, fühlte sie sich verletzlich. Ihr Körper ging noch durch viele Veränderungen. Das stundenlange Training vor dem Spiegel und Kostümproben taten ihr Übriges. Das ginge aber den meisten in der Ausbildung an einem gewissen Punkt so. Graber ist reflektierter geworden: «Heute kann ich viel besser damit umgehen. Ich fühle mich wohl in meinem Körper.» Die Tänzerin ist froh, dass heutzutage in ihrer Branche offener über Bodyshaming und Magersucht gesprochen wird und die Akzeptanz für verschiedene Körperformen wächst. Die staatlich finanzierte Ausbildung an der Luzerner Musical Factory, in der man keinen Lohn erhält, verlangt der jungen Frau einiges ab. «Es ist körperlich sehr anstrengend und definitiv keine einfache Ausbildung.» Dreimal täglich Tanztraining in etlichen Stilrichtungen, dazu kommen Akrobatik, Gesangsstunden, Schauspielunterricht und Musiktheorie. Graber lernt viel über die Geschichte des Theaters und Schauspiels, Mentaltraining und Anatomie. «Sogar Steppen lerne ich jetzt.» Eine besondere Herausforderung ist für sie aber der Gesang, in dem sie keine Vorbildung hatte: «Die Schule verlangte nicht, dass man singen können muss, man lerne es. Und das ist auch so, ich bin schon besser geworden. Ich sehe mich im Ensemblegesang aber nicht als Solokünstlerin.»
Der Schritt zum Profi
Nächstes Jahr wird sie die Ausbildung beenden und muss ein Engagement finden. «Deshalb gehe ich jetzt zu vielen Auditions, bewerbe mich. Gerade komme ich aus Köln von einem Workshop zurück.» Viele der Musicalkünstler:innen kennen sich bei den Castings schon untereinander, oft ist Graber die Jüngste im Saal. Da müsse man eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein mitbringen.
Dazu kommt eine unerlässliche Selbstvermarktung: «Ohne Instagram geht nichts. Wenn du wissen willst, wie jemand tanzt, gehst du zuerst auf Insta. Es ist wichtig, sich da zu präsentieren.» Deshalb ist Graber online sehr aktiv, zeigt ihre Erfolge und Choreografien. Um neben der Ausbildung Geld zu verdienen, unterrichtet sie Kinder im Hiphop. «Ich liebe es zu unterrichten», sagt sie mit leuchtenden Augen. Das wäre Plan B, wenn es mit der Tanzkarriere doch nicht funktionieren sollte. Aber im Moment ist Grabers Showstern am Aufgehen. «Ich arbeite mit Curtis Burger, er ist Choreograf für DJ Bobo. Eine grosse Ehre.» Neben dem Tanzen gibt es für die Bernerin derzeit wenig anderes. «Mein Freundeskreis kommt auch aus diesem Bereich und so haben wir Verständnis untereinander.» Vom Tanzen hat sie nie die Nase voll. «Wir gehen im Ausgang tanzen, einfach geniessen.» Wenn sie wirklich mal einen Tag Ruhe braucht, ist sie am liebsten gemütlich zu Hause mit ihrem Freund. Doch in Zukunft möchte sie die Welt sehen: «Ich möchte viel reisen und im Ausland sein», sagt sie zu ihren Plänen. Eine Rolle bei Hamilton oder im berühmten Moulin Rouge wäre ein Traum. Aber Graber ist nicht aufs Musical fixiert, möchte in Musikvideos, als Backgroundtänzerin oder in TV-Shows tanzen. Wenn sie vor Publikum steht, weiss sie, dass sich die vielen und entbehrungsreichen Stunden des Trainings gelohnt haben. «Das Gefühl auf der Bühne ist unbeschreiblich. Es ist eine riesige Freude, wenn man endlich das zeigen darf, was man so lange vorbereitet hat und alle es sehen wollen.»