Wenn Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen davon abhalten, am kulturellen Leben teilhaben zu können, springen sie ein: Die Künstler:innen von «Kultur am Bettrand». Initiantin und Sängerin Shirley Grimes erlebt dabei bereichernde Begegnungen von Glück bis Trauer.
Dieser Gig war ziemlich einzigartig: «Ein Raum mit einer Plexiglasscheibe, auf der einen Seite die Musiker, auf der anderen kommen, einer nach dem anderen, die Männer hinein und dürfen ein 25-minütiges Konzert und Gespräch erleben», erzählt Shirley Grimes von einem Auftritt der Band «Teenage Songbook» vor vier Gefängnisinsassen in Einzelhaft. «Die Männer konnten es fast nicht glauben, dass sie, obwohl sie Täter waren, ein Stück Kultur erfahren durften. Ja, auch im Gefängnis gibt es einsame Menschen», sagt die irischstämmige Sängerin, die im März 2023 das Projekt «Kultur am Bettrand» initiiert hat.
Die Idee dahinter ist einfach und doch bedeutsam: Menschen, die isoliert sind und nicht am kulturellen Leben teilnehmen können, dürfen zu Hause einen Auftritt geniessen. Dieser ist für die Empfänger:innen gratis. «Mir war es ein grosses Anliegen, dass es ein Angebot für alle wird und nicht etwas, das man sich leisten können muss. Denn es kann doch nicht sein, dass gerade die, die in ihrer Situation Musik und Kunst brauchen würden, darauf verzichten müssen», erklärt Grimes. Hinter dem Projekt steht ein Verein, der durch Spenden und Stiftungen auch für die Vergütung der Kulturschaffenden sorgt. Vom Ländler, über Popmusik bis hin zu Operngesang und Lesungen ist alles dabei. Grimes und ihr Team von 45 professionellen Künstler:innen im Raum Bern und Zürich konnten bisher fast 200 Auftritte realisieren. In Kontakt kommen die Menschen mit dem Projekt meist über die Webseite und Anrufe. Hier braucht Grimes, die alles betreut und aufgleist, viel Feingefühl: «Schon beim ersten Telefongespräch mit den Leuten spüre ich, was sie wünschen und lasse mir erzählen, in welcher Situation sie stecken. Dann kann ich einschätzen, welcher Künstler zu ihnen passen würde.» Und Grimes bekommt eine Idee davon, was sie erwarten wird. Manches Schicksal ist erschütternd. «Ich möchte nicht alle Details wissen, aber ich will die Kulturschaffenden gut informieren. Nicht jeder kann alles machen. Manchmal sind die Situationen zu persönlich.» Grimes kennt palliative Kunden genauso wie Menschen, die nach einer Chemotherapie wieder auf dem Wege der Besserung sind. Andere haben Depressionen oder Phobien.
Empathie und Nähe
Vor Ort sind dann Empathie und Nähe wichtiger als ein perfekt inszenierter Auftritt. Ohne Lampen, Mischpult und Verstärker: «Es geht um echte Begegnungen.» Das kann für beide Seiten wertvoll wie herausfordernd sein. Grimes weiss, dass in so einem intimen Rahmen, wie beim Konzert in den eigenen vier Wänden, viele Emotionen den Bann brechen können. Sie erzählt viel zwischen den Liedern, wird leise oder bleibt für Gespräche noch lange sitzen. «Aber es ist selten traurig, ich hatte auch schon viele nachdenkliche und besinnliche Momente. Ich empfinde das als magisch.» Eine andere Musikerin von «Kultur am Bettrand» war bei einer jungen Frau die nicht mehr lange zu leben hatte. «Doch die beiden hatten eine wunderbare Stimmung zusammen. Fröhlich, es war ein Fest.» Auch erzählt Grimes von einem Musiker, selbst Vater, der für eine Vierjährige spielte, die später an einem Hirntumor verstarb.
Die Idee von «Kultur am Bettrand» trug Grimes schon lange mit sich herum. Den Stein ins Rollen brachte dann die Pandemie, die viele Menschen in die Isolation zwang. Ausserdem spürte Grimes, dass sie einen anderen Raum als die Bühne suchte. Als die Musikerin ihr Projekt startete, fragte sie 30 bekannte Künstler:innen an. «Und alle sagten zu», staunt Grimes noch heute. So viel Unterstützung ihrer Community freut sie ungemein. Auch ihre Tochter und ihr Mann sind bei «Kultur am Bettrand» engagiert. Im Moment fragen mehr potenzielle Mitwirkende an, als sie aufnehmen können. Das Projekt wächst langsam, aber stetig. «Demnächst möchten wir Kulturschaffende aus Basel und Umgebung dazunehmen und die regionale Eingrenzung dann wegnehmen.» Das Ziel ist es, «Kultur am Bettrand» möglichst überall in der Schweiz anzubieten. Ab Oktober kann Grimes eine Werbeoffensive erstmals finanzieren.
Glückliche Zwischenbilanz
Neben den Privatkonzerten spielen sie und ihre Kollegen auch in Spitälern. Dann besuchen sie pro Nachmittag vier bis sechs Personen nacheinander. «Es kann auch vorkommen, dass ich nach kurzer Zeit das Zimmer wieder verlasse, weil ich spüre, dass es den Menschen im Bett zu viel Kraft kostet. Wer sehr schwach ist und dennoch aufmerksam zuhören will, für den kann es zu belastend sein», sagt sie. Andere geniessen den Moment und können es kaum fassen, dass nun extra für sie jemand musiziert. «Darf ich so etwas haben, bin ich krank genug für das?» Solche Fragen stellen sich laut Grimes ihre Kunden oft. Neulich hat sie eine Begegnung mit einem älteren Mann mitgenommen. «Ich fing an für ihn zu spielen und er weinte nur noch, weil er so gerührt war. Das ist mir wahnsinnig eingefahren.» Manchmal reiche schon nur zu zeigen: Du bist mir wichtig, in diesem Moment. Die Musik und Worte aller Kulturschaffenden ermöglichen eben ein kurzes Heraustreten aus dem Krankheitsalltag. Grimes schaut versonnen aus dem Fenster ihres Probenraums. Sie ist glücklich darüber, wie sich ihr Herzensprojekt «Kultur am Bettrand» entwickelt hat. Für sie hat es auch viel mit der eigenen Biografie zu tun. «Mein Sohn hatte auch keinen leichten Start ins Leben. Wir verbrachten viel Zeit in Spitälern», erinnert sie sich. Als Mutter bangte sie zwei Jahre um ihn. «Meine ganze Kraft ging zu ihm. Das war richtig, aber auch sehr anstrengend. Deshalb war es mir im Projekt wichtig, dass auch die Angehörigen eingeschlossen sind. Oft werden sie vergessen. Wir spielen bei Weitem nicht nur für die Erkrankten.» Nach eineinhalb Jahren «Kultur am Bettrand» zieht die Musikerin eine glückliche Zwischenbilanz. «Genau so wollte ich immer arbeiten», lächelt Grimes voller Energie. «Wenn ich mein Leben in Summe anschaue, ist das Projekt die Antwort.»