Alle sollen eine Berufsausbildung ihren Fähigkeiten entsprechend abschliessen können. Dafür setzt sich das Mittelschul- und Berufsbildungsamt des Kantons Bern ein. Eine Verakademisierung der Grundbildung sieht die Vorsteherin des MBA nicht.
Barbara Gisi, was halten Sie vom Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr»?
Es ist veraltet. Wir befinden uns im Zeitalter des lebenslangen Lernens.
Man lernt also nicht mehr «den Beruf des Lebens» …
Das gilt längst nicht mehr. Die Halbwertszeit des Wissens wird täglich kürzer. Wir müssen wissen, wo wir das Wissen holen können, methodisch à jour bleiben und aus der Informationsflut und -vielfalt das Richtige zum richtigen Zeitpunkt finden.
Ihr Amt setzt sich unter anderem dafür ein, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung auf der Sekundarstufe II abschliessen können, welche ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht. Wie setzen Sie diesen Leitsatz um?
Es geht darum, dass alle eine Berufslehre, eine Mittelschule, ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule absolvieren und abschliessen können. Dann kommen wir auf die 95 Prozent der Abschlüsse, die wir erreichen wollen.
Was geschieht mit den fünf Prozent, die es nicht schaffen?
Diese benötigen viel Aufmerksamkeit und Begleitung, beispielsweise mit Brückenangeboten, die sie hoffentlich zu einem Abschluss führen önnen. Wir bereiten sie auf sprachliche Kompetenzen vor. Auch ist es möglich, als Erwachsene noch eine Lehre nachholen zu können. Das Ziel ist es, sich im Leben wirschaftlich selbstständig behaupten zu können. Die älteste Person, die meines Wissens im Kanton Bern noch eine Berufslehre abgeschlossen hat, war 58-jährig!
Heute ist der Zugang von Asylbewerbenden und Flüchtlingen zur Berufsbildung erschwert. Eine Petition des Vereins «Bildung für alle – jetzt!» wurde 2021 eingereicht. Wie ist diesbezüglich die Situtation im Kanton Bern?
Ich erachte den Zugang nicht als erschwert. Alle haben den Zugang zur Berufsbildung, und zwar unabhängig ihres Status’. Sie können den Brückenangeboten zugeteilt werden, gemäss ihren Fähigkeiten. So können Ukrainer:innen mit Status S wie andere Geflüchtete von den Brückenangeboten Gebrauch machen oder sofort eine Berufslehre antreten. Gewiss, die Sprachfähigkeit muss vorhanden sein. Im Kanton Bern haben wir Geflüchtete im dreistelligen Zahlenbereich, welche eine Lehre begonnen haben.
Wie sieht ein solches Brückenangebot konkret aus?
Es ist vor allem auf die Sprache ausgerichtet. Aber auch Informationen zum schweizerischen Berufsbildungssystem und Verhaltensregeln aus unserem Alltag gehören dazu, der Umgang mit Behörden, Verkehrsregeln usw.
Oft klagen Lehrbetriebe, keine Lernenden zu finden. Viele Jugendliche streben die gymnasiale Grundbildung an anstelle einer Berufslehre. Wie sind Ihre Beobachtungen?
Das höre ich tatsächlich oft, auch von der Politik. Die Zahlen belegen aber etwas anderes; der Kanton Bern ist ein ausgesprochener Berufsbildungskanton. Etwa 20 Prozent absolvieren eine Mittelschule, 75 Prozent schliessen in der Berufsbildung ab. Der Kanton Bern hat im Vergleich schweizweit eine hohe Berufsbildungsquote. In Stadtkantonen wie Genf oder Basel ist die gymnasiale Quote höher.
Was macht der Kanton Bern besser als andere?
Der Kanton Bern ist nach wie vor agrargeprägt mit gewerblich-industriellem Hintergrund und vielen KMUs. Da ist die Berufsbildung stark verankert.
Worauf führen Sie den Trend zum Gymnasium zurück?
Das hat sicher auch damit zu tun, dass Menschen aus Ländern, wo die Berufslehre nicht existiert oder einen geringeren Stellenwert hat, in die Schweiz kommen und unser Modell der dualen Grundbildung nicht kennen. So fokussieren sie sich auf die gymnasiale Matur.
Um die Berufslehre attraktiver zu machen, sozusagen als Gleichwertigkeit zu den Gymnasien, wurde vor etwa 40 Jahren die Berufsmatura geschaffen. Ist diese Gleichwertigkeit gelungen?
In akademischen Kreisen ist die Gleichwertigkeit offensichtlich noch nicht ganz angelangt. Kinder aus Akademikerfamilien absolvieren eher die gymnasiale Matur. Es ist eine permanente Kommunikationsaufgabe, die Attraktivität der Berufslehre, ihre Durchlässigkeit und Möglichkeiten aufzuzeigen. Aber zum grossen Teil ist es gelungen. Die höheren Fachschulen und Fachhochschulen sind heute anerkannt und etabliert, dies hoffentlich bald auch ausserhalb der Landesgrenzen.
Welche Berufe sind zurzeit im Trend, welche weniger?
Mir kommt spontan eine amüsante Begebenheit in den Sinn: Vor einigen Jahren gab es viele Kochsendungen im Fernsehen. Das wirkte sich spürbar auf die Berufswahl aus: Es gab mehr Interessentinnen und Interessenten, die den Kochberuf erlernen wollten! Kaufmann/Kauffrau ist nach wie vor an der Spitze der Lieblingsberufe, wenn auch zurzeit mit sinkender Tendenz. Begehrt sind weiter sämtliche IT-Berufe. Die Digitalisierung hat natürlich einen starken Einfluss auf die Berufswahl. Berufe wie Bäcker:in oder in der Gastronomie und in der Pflege kämpfen vor allem wegen der besonderen Arbeitszeiten mit Nachwuchsproblemen. Diese Branchen müssen diesbezüglich über die Bücher, damit sie ihre Mitarbeitenden finden und auch behalten können.
Mit welchen Herausforderungen müssen sich heute Lehrbetriebe auseinandersetzen?
Die schwierigen Fälle werden komplexer. Zur Lösung der Probleme wird vermehrt ein runder Tisch mit allen beteiligten Parteien erforderlich.
Wie ist das zu verstehen?
Es geht um die Frage, wie man die Auszubildenden unterstützen kann, damit sie zum Abschluss gelangen. Die Anforderungen der Berufsverbände bezüglich Ausbildungsinhalte sind digitaler geworden, die Berufsbildner in den Betrieben sind stärker gefordert, auch hinsichtlich Lernformen und -methoden, wie sie zurzeit für die Generation Z gelten. Mit dem Instrument Nachteilsausgleich lässt man mehr Ansprüche bei physischen oder psychischen Beeinträchtigungen zu. Bei Prüfungen erhalten diese Jugendlichen zum Beispiel mehr Zeit oder sie können ihre Arbeiten in einem separaten Raum ausführen. Wir haben heute in der Gesellschaft die nötigen Fachleute und die finanziellen Mittel, um diese Menschen ins Leben begleiten zu können. Jugendliche mit Problemen sind heute sichtbarer und man unternimmt heute viel mehr für deren Probleme. Unsere Gesellschaft ist komfortabler unterwegs als noch vor 50 Jahren. Das sieht man auch in der Bildung als Ausprägung.