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Muss sich der Tourismus neu erfinden?

Von Freizeit, Wertschöpfung, Ressourcen und Nachhaltigkeit

Forscherin Monika Bandi fordert für den Tourismus mehr digitale Transformation. Foto: Daniel Zaugg

Rund 20 Millionen Gäste kommen jährlich in die hochpreisige Schweiz und sorgen für rund 42 Millionen Übernachtungen. Gleich­zeitig sind über 160 000 Vollzeitstellen direkt im Bereich Tourismus zu finden, und an Hotspots in Berggebieten bildet der Ferienverkehr fast 20 Prozent der Wertschöpfung. Aus diesen Eckzahlen erklärt sich auch der grosse Forschungs- und Bildungsbedarf. Dr. Monika Bandi Tanner gibt Einblicke in Themen, Trends und Tendenzen.

Monika Bandi Tanner ist seit 12 Jahren Leiterin der Forschungsstelle Tourismus (CRED-T) an der Uni Bern, welche sich mit den Auswirkungen und der regionalen Tourismus-Wertschöpfung beschäftigt. Der Fokus des acht-köpfigen Teams und der Studierenden ist auf die Reisenden, also die Gäste, die Leistungserbringer und die Auswirkungen auf die jeweils regionale Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt gerichtet.

Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen, um an Ihrem Institut zu studieren?
Monika Bandi Tanner: Es ist entweder der klassische Weg über die Matur mit der Studienrichtung Volkswirtschaft im Haupt- oder Nebenfach, oder die Weiterbildung für Kader mit höherer Fachschul-Ausbildung und mehreren Jahren Führungserfahrung.

Was ist Tourismus eigentlich, woraus entsteht er?
Tourismus ist der Gegenalltag. Er entsteht aus unseren Bedürfnissen nach Abwechslung und Erholung, nach gemeinsamen Erlebnissen mit Familie oder Freunden.

Und dafür steht man Stunden vor dem Gotthard, am Check-in und in Abflughallen oder in den Talstationen der Bergbahnen?
Sie sprechen die Reisemotivation an. Es gibt die Kongruenz-Hypothese die besagt, dass man sich in den Ferien wie zuhause verhält, auch da kann man im Dichtestress unterwegs sein. Und dann gibt es die Kompensations-Hypothese: Wer einen Passiv-Job hat, verhält sich aktiv in den Ferien – Abenteuer, Biken, Schneeschuhlaufen, Party … Schliesslich gibt es den Mix aus beiden Verhaltensformen. Tourismus ist Konsumzeit und People-Business, und deshalb für einige Regionen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.

Ist es das, was die Tourismusforschung antreibt?
Auch. Aber ebenso das Wachstum des Tourismus. Die Themen nehmen nicht ab sondern zu. Unsere Forschungsschwerpunkte sind unter anderem:

  • Bergbahnen-Geschäftskonzepte, auch im Zeichen des Klimawandels oder der optimalen Bewältigung der Nachfrage. In diesem Thema ist grosse Sprengkraft für die Zukunft.
  • Die Digitalisierung: Sie hat das Potenzial, die Interaktion mit Gästen zu erleichtern und Arbeitsabläufe und Produktivität stark zu verbessern.
  • Die Aufrechterhaltung der Mobilität unter dem Aspekt der Klima- und Kapazitätsprobleme.
    Erhöhung der Attraktivität für Arbeitnehmende, nicht zuletzt im Zeichen der Diversität. Die Rollenverteilung ist noch zu althergebracht.

Die freie Mobilität und die Zunahme des Tourismus – Ergebnisse politischer Freiheiten und des Wohlstands – stehen zunehmend in der Kritik: Zu viel, zu laut, alles, nur nicht nachhaltig, etc. Wie sehen Sie das?
Ja, Tourismus ist ein Wohlstandsphänomen. Gleichzeitig steigt der Wohlstand kontinuierlich, etwa in der Zweiten Welt. Heisst: Je mehr Menschen zu Wohlstand kommen, umso mehr reisen auch. Das führt an Destinationen und in der Mobilität zu Dichtestress. Ob nun bei den Bergbahnen oder in Venedig und Dubrovnik – mit der Zunahme der Nachfrage wachsen die Ressourcenprobleme. Was zu oft zur Folge hat, dass der Tourismus zerstört, wonach sich die Gäste sehnen. Natürlich leidet damit auch oft die Lebensqualität der lokalen Bevölkerung.

Was kann man dagegen tun?
Wo Pisten und Verkehrswege verstopft und wo Abfall- und Abwasserprobleme kaum zu bewältigen sind, kommt es notgedrungen zu Eingriffen. Etwa durch lenkende Information oder monetäre Massnahmen: Wo die Nachfrage zu gross und es zu eng wird, steigen die Preise. Schliesslich gibt es noch die dritte Stufe: Kontingentierung. Das könnte, am Beispiel Venedigs, bedeuten, dass man statt Kreuzfahrtschiffe mit 3000 bis 6000 nur noch solche mit maximal 1000 Passagieren zulässt. Zusammengefasst: Der Tourismus muss sich, um die Qualität zu halten, nachhaltiger und massvoller entwickeln.

Also, um ein Klischee zu gebrauchen: Jeder Gast muss ein Bäumchen pflanzen?
(Lacht) Nachhaltige Entwicklung im Tourismus hat viele Facetten. In Stichworten einige Vorschläge: Mit dem ÖV anreisen, möglichst lange am Ferienort bleiben, lokale Produkte konsumieren, den lokalen Fachhandel berücksichtigen, Aktivitäten wählen, die möglichst wenig Folgen auf die Umwelt haben und sich auf Augenhöhe mit Einheimischen austauschen. Letzteres ist sehr wichtig, denn für Einheimische ist es nicht der Freizeit- sondern der Lebensraum – darin sollten sich Gäste respektvoll benehmen. Von den Gastgeberinnen und Gastgebern benötigt es eine massvolle Planung – wirtschaftlich gesehen will man möglichst viele Gäste, aber gerne ohne Folgen … eine schwierige Gratwanderung.

Eines Ihrer Forschungsgebiete ist die Digitalisierung.
Genauer die «Digitale Transformation». Der Tourismus ist angehalten, da mit anderen Sektoren Schritt zu halten und seine Produktivität möglichst zu erhöhen. Im Tourismus beträgt sie seit längerer Zeit etwa 60 000 Franken pro Jahr und Arbeitnehmende, was etwa dem Lohn entspricht. In anderen Sektoren ist die Produktivität mehr als doppelt so hoch, 140 000 Franken und mehr. Mit der Digitalisierung kann die Interaktion mit Gästen und Mitarbeitenden enorm vereinfacht und intensiviert werden – Prozesse in und zwischen den Betrieben an einer Destination müssen dagegen noch effizienter werden. Das beginnt schon bei Sparpotenzialen, beim Check-in oder beim Service-Ausbau mit verbesserter Information. Ein grosses Handlungsfeld für den Tourismus. Und schliesslich gehts um Daten. Sie sind nach Bahnen, Hotels, Gastronomie usw. noch zu isoliert. Indem eine gute Vernetzung der Anbieter und Angebote stattfindet, wird mehr Aussagekraft geschaffen, Kapazitäten können besser geplant und genutzt werden. Digitalisierung ermöglicht es, den Tourismus besser abzubilden und Kapazitäten des Umfeldes optimal zu entwickeln. Dies bedeutet Win-win für Gäste und Destinationen.

Ein Wort noch zu Bern – ist die Stadt touristisch auf dem richtigen Weg?
Berns Schwerpunkt ist der Geschäftstourismus, das umfasst das «Bundeshaus», Konferenzen, Messen, Uni- und Kultur-Events. Das Umfeld von Politik, Staatsbetrieben, Wissenschaft und Verwaltung füllt die Hotels. Der Freizeit-Tourismus, also Touring-Gruppen und Individualreisende für eine oder zwei Übernachtungen, sind die Ergänzung. Ich beobachte eine massvolle Entwicklung in Bern. Gerade wegen der aufs ganze Jahr recht gleichmässig verteilten Sessionen im Bundeshaus. Deshalb wird der Tourismus von der lokalen Bevölkerung auch getragen.

PERSÖNLICH

Dr. rer. oec. Monika Bandi Tanner, 41, studierte in Bern und Bergen (NO) Volkswirtschaft, Psychologie und Betriebswirtschaft. Seit 2012 leitet sie die Forschungsstelle Tourismus an der Universität Bern. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Kallnach. Ihr Haupthobby ist Musik, sie spielte Flügelhorn in der hochdekorierten Brass Band Berner Oberland «BBO» und ist aktuelle Präsidentin der Nationalen Jugend Brass Band (NJBB).

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