Die Schweiz liegt in einer seismisch aktiven Zone, jährlich werden mehrere hundert Erdbeben registriert, die meisten davon sind allerdings schwach und kaum spürbar. Starke Beben sind selten, bergen aber grosses Schadenspotenzial. Ein Gespräch über die aktuelle Forschungstätigkeit, geologische Archive und warum die Bodenbeschaffenheit entscheidend ist.
Unser Treffen mit Professor Flavio Anselmetti, Institutsdirektor und Professor für Quartärgeologie und Paläoklimatologie, findet direkt in seinem Büro am Institut für Geologie in Bern statt. Wir setzen uns an den Holztisch, der viel Platz im eher kleinen Reich des Professors einnimmt. «Es ist etwas chaotisch hier», entschuldigt er sich schmunzelnd. Wir finden eher, es wirkt wie ein gemütliches Zimmer mit vielen Büchern, Karten und Exponaten aus dem Innern der Erde.
Wobei unterbrechen wir Sie gerade?
Mein Team und ich sind daran, im geologischen Archiv Informationen über die zahlreichen Umwelt- und Klimaveränderungen in der Vergangenheit zu analysieren.
Wie muss man sich ein solches Archiv vorstellen?
Eigentlich ist es ein natürliches Geschichtsbuch, aus welchem wir mit Hilfe geologischer Bohrungen aus den Jahresschichten die vergangenen Klimaschwankungen und Naturgefahren, wie beispielsweise Erdbeben oder damalige Temperaturen durch charakteristische Spuren im Sediment rekonstruieren können.
Ganz kurz erklärt: Wie geht das?
Schauen Sie: Hier haben wir ein Stück einer solchen Bohrung eines etwa 10 Millionen Jahre alten Sees in Spanien. Hier können wir ganz deutlich eine Störung in den sonst regelmässigen Jahresschichten erkennen. Das deutet auf eine dramatische Erschütterung hin, die sich damals in der Folge eines Erdbebens dort ereignet hat. So kann man beliebig weit in die Geschichte der Erde zurückschauen.
Und was kann man zum Beispiel in der Region Bern entdecken?
Messungen der Epizentren der jüngeren Beben reihen sich entlang einer Linie auf und lassen eine sogenannte aktive Störung im Gebiet von Bern erkennen. Dieser tektonische Bruch stört das ursprüngliche Gefüge eines Gesteinspaketes. Wenn sich der Bruch zu einer längeren Störung mit anderen Brüchen vereint, könnte die sich bewegende Störungsfläche insgesamt grösser werden und die Magnitude eines kommenden Erdbebens stark erhöhen.
Vorhersagen kann man Erdbeben aber nach wie vor nicht…
Das wäre der Jackpot! Aber leider nein. Es ist ganz schwierig. Es ist auch immer eine Abwägung zwischen: ist das bereits das Hauptbeben oder nur ein Vorbeben? Diese Beurteilung gleicht, trotz aller Forschung, oft schlicht einer Lotterie.
Wenn man zurückschaut, gab es die grossen Erdbeben in der Schweiz etwa alle 100 bis 300 Jahre – wie hoch schätzen Sie das aktuelle Risiko ein?
Es gibt in der Schweiz Regionen mit einer etwas höheren Erdbebenwahrscheinlichkeit – wie das Wallis und Basel. Generell ist ein Erdbeben der Magnitude 6 und mehr, welches zu grossen Zerstörungen führt, aber überall in der Schweiz möglich. Auch wenn es eher seltene Ereignisse sind.
Ist es somit übertrieben, wenn man sich vor Erdbeben fürchtet?
Nein! Das Problem ist einfach, wenn es ein Erdbeben gibt, ist es dasjenige Ereignis, das den höchsten Schaden verursachen kann, zumal es in der Folge eines solchen auch noch zu Erdrutschen und Überschwemmungen durch beispielsweise Tsunamis kommen kann. Eine Wiederholung des Erdbebens, wie es 1356 in Basel stattgefunden hatte, würde heute einen Schaden von etwa 50 Milliarden Franken an Gebäuden verursachen und eine hohe Opferzahl fordern.
Beim Bauen achtet man aber doch sehr auf Erdbebensicherheit?
Ja, da wurden in den vergangenen Jahrzehnten sicher grosse Anstrengungen unternommen. Dennoch ist es ganz wesentlich, auf welchem Untergrund ein Gebäude erbaut wird. Befindet es sich in einer flachen Talebene und hat einen eher lockeren Untergrund, wird ein Erdbeben hier bis zu zehn Mal stärker schütteln, als wenn ein Haus auf Felsen gebaut ist. Deshalb rate ich allen Eigenheimbesitzenden, sich diesbezüglich gut zu informieren und sich ausgiebig beraten zu lassen.