Der beauftragte Berner Architekt Claudio Campanile gewährt dem WohnBär einen exklusiven Blick ins Innenleben des denkmalgeschützten Hauses, welches sich im Perimeter des UNESCO-Welkulturerbes befindet. Ein reales Schauspiel in vier Akten mit wechselnden Bühnenbildern.
Prolog: Aufstand der Bevölkerung 1954
Wir befinden uns im Herzen der unteren Altstadt, vor dem Gesellschaftshaus der Burgergesellschaft, an der Kramgasse 14. Schaut man sich die Nachbarhäuser an, stellt man fest, dass das Gesamtbild eine barocke Gestalt angenommen hat. Ursprünglich wurde die Stadt aber nicht so gebaut, sie reichte bis hinauf zum Zytglogge, welcher als Westeingang diente. Im Laufe der Jahre wurden während der Barockzeit (1650 bis ca. 1780) neue Gebäude erstellt, saniert, mit neuen Fassaden versehen. «Regisseur» Claudio Campanile: «Die Altstadt präsentiert sich eigentlich sehr einheitlich, aber die einzelnen Häuser sind trotzdem individuell gestaltet. Die einen mit strengen, rechteckigen Fenstern, andere mit stark geschwungenen Rundbögen der Fenster. Jedes Haus ist Ausdruck des Zeitgeistes jener Epoche, in der es entstanden ist. Das ist die Vielfalt in der Einheit.» Ein geflügeltes Wort, das sich in allen «Bühnenbildern» des Architekten widerspiegeln wird. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten der Vielfalt jedoch nicht. So besteht beispielsweise die Vorschrift, in der Altstadt beim Bau der Fassaden Sandstein zu verwenden. Auch unterschiedliche Höhen der Liegenschaften in der Häuserzeile oder eine Zweckentfremdung sind heute nicht mehr erlaubt.
Den Zorn der Bevölkerung bekam der Berner Bäckermeister Ischi zu Beginn der 1950er-Jahre zu spüren. Er wollte acht Wohnhäuser in der Gerechtigkeitsgasse abreissen und durch ein Verwaltungsgebäude ersetzen. Am 6. März 1954 versammelten sich 8000 Personen auf dem Münsterplatz zu einer Grossdemonstration und wehrten sich lautstark gegen dieses Vorhaben. Die Berner Burgergemeinde sprang rettend ein und erwarb die Liegenschaften. Danach hatte das Stimmvolk über eine neue Bauordnung abzustimmen, welche dem Schutz der Altstadt diente. Das war sozusagen die Geburtsstunde der städtischen Denkmalpflege 1978. Die revidierte Bauordnung dürfte auch den Grundstein gelegt haben, dass die UNESCO die Altstadt von Bern 1983 ins Weltkulturerbe aufgenommen hat.
Erster Akt: Treppenhaus Kramgasse 14
Der Eingangsbereich ins Treppenhaus im Erdgeschoss besticht durch seine geschwungene Decke aus weiss verputztem Stuck. Die ursprünglichen, blütenähnlichen Ornamente bei den aufgesetzten Türbögen sind sowohl beim Glas als auch beim Holz einheitlich. Ein Innenhof verbindet das Vorderhaus Kramgasse 14 mit dem Hinterhaus Rathausgasse 11, wo im Erdgeschoss das Restaurant Romy untergebracht ist. Auffallend ist der filigran wirkende neue Glaslift (für maximal zwei erwachsene Personen), der seit dem Umbau während der Fahrt den Blick auf das barocke Treppenhaus wieder freigibt.
Zweiter Akt: Wohnung im Dachgeschoss
Der rostfarbene Klinkerboden, der zur Tür der Dachwohnung führt, stammt noch aus den 1960er-Jahren; Vielfalt in der Einheit … Der einstige Estrich wurde schon vor der Sanierung als Wohnung genutzt. Die neu konzipierte Dachwohnung hat bloss zwei Türen: Die Eingangstür und die Tür zur Nasszelle, welche sich in einem einzigen grossen Block in der Raummitte, bestehend aus Einbauschränken und Küchenkombination, befindet. Der ganze Grundriss dreht sich um diesen Block herum: Bereich Wohnen/Essen und Bereich Schlafen. Dazu «Bühnenbildner» Claudio Campanile: «Ich liebe es, Räume zu richten. Jeder Raum hat seine eigene Organisation. Wenn ich im Schlafbereich aufwache, blicke ich auf dieser Achse durchs Fenster direkt auf die Dächer der Altstadt.» Bis in die 1990er-Jahre durfte man Estriche nicht auf allen Ebenen zu Wohnraum umbauen. Im Sinne der Verdichtung sind diese nun zur Wohnnutzung freigegeben. Vorgaben gibt es bezüglich Anzahl, Form und Art der Fenster.
Warum denn die geschwungene, skulpturähnliche Struktur an der Cheminée-Wand? Claudio Campanile erklärt: «Es handelt sich um die Kaminzüge der Cheminées der unteren Wohnungen, die heraufgezogen wurden und sich hier im Dachgeschoss vereinen.»
Eine enge Holztreppe führt ins Galeriegeschoss, wo man mühelos aufrecht stehen kann. Das grosse Dachfenster gibt den atemberaubenden Blick frei auf das Berner Münster – Wow-Effekt garantiert! Die Sommerwärme auf der Galerie ist spürbar. Claudio Campanile hat sofort die passende Antwort: «Durchschnittlich wird es pro Jahr an bloss zwölf Tagen 30 °C heiss», beschwichtigt er und zerstreut unsere Bedenken. Kommt dazu, dass die Wohnung zurzeit noch nicht bewohnt ist. Durch die Nachtauskühlung mit offenen Fenstern wird einen in den Morgenstunden in den Räumen eine deutlich kühlere Temperatur begrüssen.
Der Dachwohnung wurde mit der neuesten Sanierung wieder der Charakter von Altstadt und Estrich eingehaucht. «In den 60er-Jahren wurde einfach alles weiss gestrichen. An der Decke hatte es Gipsplatten, nun ist wieder alles in Holz verkleidet. Wir wollten mit der Sanierung wieder den Geist der Örtlichkeiten einfangen, man spürt wieder die Mächtigkeit der in der Altstadt typischen und strukturell bedeutenden Brandmauern», begeistert sich Claudio Campanile.
Dritter Akt: 3-Zimmer-Wohnung im 1. Stock
Die Wohnung betreten wir – wie bei einem stattlichen Bauernhaus – direkt durch die Küche mit der Kochinsel aus dem 21. Jahrhundert. Unter der weissen Farbschicht der 60er-Jahre verborgen, kam bei der Sanierung das Nussbaumholz der grossen Einbau-Wandschränke zum Vorschein. Von der Küche gelangt man direkt in die Toilette. Amüsant und etwas gewöhnungsbedürftig: Zur Küche und zum Treppenhaus gibts zwei Fenster mit ganz «normalem» Glas für freien Aus- und Einblick! Auch hier wartet Claudio Campanile nicht lange mit der Begründung: «Man wollte vom Tageslicht des Innenhofes profitieren und so den Eingang bzw. die Küche belichten. Die Benutzer der Toilette werden die Fenster mit textilen Elementen abdecken müssen, um sich vor fremden Blicken zu schützen», so seine Empfehlung. Damit dieser Ort wieder zum buchstäblich «stillen Örtchen» wird …
Das nun freigelegte und funktionierende Cheminée und die Verbindung zu einem Nebenraum wurden beim Umbau in den 1960er-Jahren zugemauert. «Es war halt der Zeitgeist, der damals herrschte. Was man vor 60 Jahren für richtig hielt, ist heute überholt. Heute sucht man wieder den Weg zurück zur Originalität und berücksichtigt dabei die relevante zeitliche Entwicklung», entschuldigt Claudio Campanile die Handlungen der damaligen Planer.
In der 3-Zimmer-Wohnung im ersten Geschoss wurde auch das Parkett minutiös in den Originalzustand versetzt. Dunkle Flecken stechen ins Auge. Dafür gibt es für Claudio Campanile eine mögliche Theorie: «Der Ursprung der dunklen Flecken könnte ein Cheminéebrand gewesen sein. Durch die starke Erhitzung der Befestigungsnägel ergaben sich Brandspuren. Aber es ist eigentlich nicht relevant – für mich gab es keinen Grund, deswegen das Originalmaterial herauszureissen. Dadurch entstand eine interessante Patina!»
Vierter Akt: Restaurant Romy, Erdgeschoss, Seite Rathausgasse
Wir durchqueren den Hinterhof und treten durch die Hintertür ins Restaurant Romy, welches vom frischvermählten Ehepaar Ralo geführt wird. Bis zum Beginn der Sanierung war in diesen Räumen während hundert Jahren die Mäder Wohnkunst AG beheimatet – heute an der Münstergasse.
Die Öffnungen an der Wand lassen erahnen, was sich hier einmal befand. Nicht Zwei-, sondern Vierbeiner bevölkerten den heutigen Restaurantraum: Es war ein Pferdestall und die Wandöffnungen dienten den Tieren als Futterkrippen. Ganz speziell: Der Boden des Restaurants ist gepflästert und die Markierung der Pferdeboxen noch ersichtlich.
Epilog: Nichts ohne verständnisvolle Bauherrschaft
Für Claudio Campanile von grosssem Wert ist bei einem Projekt eine verständnisvolle, mitdenkende Bauherrschaft. «Ich strebe nicht grenzenlose Handlungsfreiheit an, sondern einen gemeinsamen Prozess. Die Devise lautet: suchen, nicht wissen! Gemeinsam suchen wir nach Lösungen, die passen und zur Geschichte des Ortes gehören. Auch beim Gesellschaftshaus haben wir die Geschichte dieses Hauses weitergeschrieben. Seit einem knappen Jahrhundert besteht hier die gleiche Bauherrschaft, aber immer wieder mit anderen Menschen. An der Kramgasse 14 fanden wir mit den gleichen Eigentümern in der gleichen Liegenschaft den Weg zurück zur Originalität.»
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