Jugend- und Gewaltexperte Thomas Kessler

«Der Widerstand der Reitschule ist grotesk»

Zwei Wochen lang machte die Berner Reitschule aus Sicherheitsgründen ihre Tore dicht. Jugendexperte Thomas Kessler erklärt, wieso die Gewalt auf der Schützenmatte eskaliert ist und warum die Betreiber endlich mit der Polizei zusammenarbeiten sollten.

Thomas Kessler, was ist in der Reitschule eigentlich genau los? 

Der Kulturbetrieb existiert seit bald 40 Jahren, ich war damals als Student dabei. Zielpublikum sind hauptsächlich die Jungen, gegründet wurde er aber gefühlt von ihren Grosseltern, die andere Bedürfnisse hatten als die heutige Generation. Diese fühlt sich wohl, wenn sie ihre Freizeit safe, also sicher und entspannt, geniessen kann – das gilt namentlich für Frauen. Sie leiden am stärksten unter aufsässigen Drogenhändlern und Macho-Gehabe. Geht dieses Sicherheitsgefühl verloren, wie in den letzten Monaten passiert, leidet auch der Veranstalter.

Apropos: Die Reitschule scheint den Drogenhandel magisch anzuziehen. Zufall?

Nein, wobei der Grund dafür nicht die Drogenabgabestelle vis-à-vis an der Hodlerstrasse ist. Sehen Sie, der internationale Drogenhandel funktioniert so: Die Dealer sind das letzte Glied in einer langen Zulieferungskette. Im Hintergrund wirken kriminelle Organisationen, die von jeder europäischen Stadt wissen, wo die für sie idealen Orte punkto Drogenverkauf sind. Die Reitschule ist auf jener Landkarte ein tiefroter Punkt. Das muss sich rasch ändern. 

Wie soll das passieren?

Mit attraktiver Belebung und gezielten Massnahmen gegen Dealer, Diebe und Gewalttäter. Viele davon sind illegal hier, man muss sie konsequent abschieben. Der Bund hat vor kurzem rund die Hälfte der Asylunterkünfte geschlossen, es hat jetzt genügend Kapazitäten für Rückkehrzentren. Stadt, Kanton und der Bund haben dafür zu sorgen, dass auf dem Vorplatz der Reitschule ein belebter Ort, ein zufriedenes Miteinander entsteht, wo für Gewalt und Drogen Nulltoleranz gilt. Wir müssen uns im Klaren sein: Hinter dem Drogenhandel stehen brutale Organisationen, die in Prostitution und Menschenhandel involviert sind.

Immer wieder werden Frauen im Perimeter Schützenmatte belästigt. Das widerspricht dem queer-feministischen Ansatz des dortigen Publikums doch komplett.

Absolut. Die Reitschule verfügt, was diesen Punkt anbetrifft, ja über ein Manifest – notabene ein sehr gutes. Um die Situation in den Griff zu kriegen, müssten die Reitschule-Verantwortlichen eng mit den Behörden zusammenarbeiten.

Dagegen wehren sie sich allerdings seit Jahren vehement – insbesondere die Polizei ist für sie ein rotes Tuch.

Für ideologische Opposition gibt es schlicht keinen Grund, sie ist geradezu grotesk und kann unreif wirken. Widerstand ist ein Anachronismus. Denn die Reitschule hat den Goodwill von Politik, Behörden und Bevölkerung auf ihrer Seite. Sämtliche Initiativen, die die Schliessung des Gebäudes verlangten, sind stets kläglich gescheitert. Man sollte seine Kräfte dazu verwenden, sich gegen die echten Gegner aufzulehnen, welche die Reitschule als Kulisse für ihre illegalen Aktionen missbrauchen. Immerhin sehe ich Signale dafür, dass die Haltung seitens der Betreibenden kooperativer wird. 

Tatsächlich?

Ja, die Stellungnahmen der Betreiber sind glaubwürdig, und gegen die unterstützende Mehrheit der Bevölkerung und Behörden zu rebellieren, ist sowieso sinnwidrig. Anonymität ist ebenso unnötig; man kennt sich im überschaubaren Bern und sollte die ernsten Probleme im Erwachsenen-Modus angehen.

Im Communiqué, das die Reitschule-Leitenden veröffentlicht haben, werden für die derzeitige Lage «eine repressive Asylpolitik, eine gescheiterte Drogenpolitik und der systematische Abbau sozialer Infrastruktur» verantwortlich gemacht.

Als Leser dieser Mitteilung gewinnt man den Eindruck, dass junge Menschen hier probieren, die aktuellen Geschehnisse einzuordnen. Das ist ihr gutes Recht – bloss hat diese Einschätzung wenig mit der Realität zu tun. Erstens gehört Bern seit rund 40 Jahren zu den fortschrittlichsten Kräften in der Drogenpolitik. Zweitens ist es etwas gar mutig zu behaupten, Bern als linkste Stadt der Deutschschweiz sei unsozial. Drittens ist die Asylpolitik eben gerade gegenüber Delinquenten und Unkooperativen nicht zu hart, sondern wegen Vollzugsdefiziten noch zu wenig wirksam.

Inwiefern?

Es kommen viele junge Männer ohne Aussicht auf einen positiven Asylbescheid ins Land, ihr Anreiz ist meist finanzieller Natur. Sie begehen überdurchschnittlich viele Delikte. In dieser Hinsicht darf man von den Reitschule-Betreibern eine bessere Differenzierung in der öffentlichen Beurteilung erwarten – gerade von Personen mit oft höherer Bildung. Die Solidarität sollte den Kriegsflüchtlingen, Frauen und Kindern gelten, nicht den Missbrauchern.

Bürgerliche Kreise fordern seit längerem eine Videoüberwachung des Areals.

Videoüberwachung alleine ist kein Allerheilmittel. Sie zeigte aber in Problemzonen anderer Städte, beispielsweise auf der Dreirosenanlage in Basel, in Kombination mit weiteren Massnahmen durchaus Wirkung. Sie funktioniert, wenn gleichzeitig die Präsenz von den Betreibern und Sicherheitspersonal erhöht wird. Man sollte die jungen Frauen fragen, was sie denn mehr stört: Drogenhändler oder Videoüberwachung. Alternative Kulturbetriebe sind wie andere ja für ihre Kundinnen und Kunden da. Die Reitschule muss nun einen Schritt auf die tatsächlichen Bedürfnisse ihrer jungen Kundschaft zugehen.

Ist die Reitschule eigentlich noch ein Platz des politischen Diskurses? 

Absolut, doch sie muss ein attraktiver und zeitgemässer Ort sein. Wokeness beispielsweise beschäftigt ältere Semester stärker als die ganz Jungen. Es sind eher einzelne Parlamente, Behörden und Medien, die die Debatten über Gendersternchen und Inklusion führen. Heute bezeichnen sich grosse Firmen als «woke», woke ist Mainstream – das Gegenteil von Nonkonformismus. Für die Generation Z und folgende hingegen sind die Aspekte der Diversität längst Lebensrealität. Keiner braucht ihnen zu erklären, was Multikulti ist – sie erleben es jeden Tag in der Schule oder im Ausgang. 

Was also muss die Reitschule tun? 

Sie ist Teil der gesellschaftlichen Realität und sollte ergo die Bedürfnisse ihrer Kundschaft abdecken. Es benötigt mehr Miteinander. Ich erlebe die Jungen als sehr aufgeweckt und differenziert denkender als die medialen, oft ideologisch aufgeladenen Debatten. Sie streben nach einem Lebensgefühl, das geprägt ist von guter Lebensqualität, Sicherheit, Wertschätzung und safen Partys. Man sollte häufiger mit den Jungen reden.

Foto: zvg, Text: Yves Schott

PERSÖNLICH

Thomas Kessler, geboren 1959, ist Experte für Drogen-, Jugend- und Gewaltprobleme sowie Fachmann für islamistische Radikalisierung. Er war zehn Jahre lang Integrationsbeauftragter von Basel-Stadt, 2018 wurde er vom damaligen Stadtpräsidenten Alec von Graffenried zum Reitschule-Trouble­shooter ernannt. In seinen Jugendjahren war Kessler selbst oft Gast in der Reitschule.

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